Süddeutsche Zeitung

Erinnerungen von Andreas Schmidt-Schaller:"Mit Sorgfalt und Liebe"

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Etwas Wirklichkeit als bittere Pille für den Staat: Über meine Rolle als Ermittler Thomas Grawe und den Sonderstatus des "Polizeiruf 110" im DDR-Fernsehen.

Gastbeitrag von Andreas Schmidt-Schaller

Wie gern habe ich beim "Polizeiruf 110" diesen Bullen gespielt. Aber als 1985 die Anfrage kam, ob ich die Rolle des Leutnant Grawe übernehme, habe ich nicht gleich zugesagt. Ich kannte die Serie natürlich, aber ich habe gedacht: Da muss auf jeden Fall mehr Pep rein. Das ist mir zu behäbig und zu bieder mit all den Herren im Anzug und mit Schlips.

Wenn man diese alten Folgen heute sieht, kann man sich nicht mehr vorstellen, welchen Kultcharakter der Polizeiruf damals in der DDR hatte, mit manchmal mehr als 50 Prozent Sehbeteiligung. Und der Beliebtheit hat diese Biederkeit überhaupt keinen Abbruch getan. Ich war trotzdem skeptisch, als das Drehbuch vor mir lag.

Nach der Lektüre habe ich beim Gespräch mit dem Chefdramaturgen ein paar Forderungen gestellt. Ich habe gesagt: Ich will die Figur auch optisch anders anlegen, ich will keinen Anzug tragen, keinen Schlips, sondern Jeans. Verbunden mit der Bitte, die Haare etwas länger tragen zu dürfen, nicht mit Standard-Kurzhaarschnitt. Und ich möchte im Film nicht mit meinem richtigen Vornamen angesprochen werden, so wie die anderen Schauspieler. So habe ich das in Johannisthal vorgetragen. Dort saß die Dramatische Abteilung des DDR-Fernsehens.

Der Chefdramaturg hat sich das ganz ruhig angehört, alles aufgeschrieben und zum Abschied gesagt: "Da reden wir noch mal drüber. Wir melden uns." Und dann wurde ich ein paar Wochen später wieder nach Johannisthal eingeladen. Da wurde mir mitgeteilt, dass alle Bedingungen akzeptiert worden seien. Ich durfte eine Lederjacke tragen. Ich sah bodenständig aus, wie ein ganz normaler Mensch.

Der große Unterschied zum "Tatort" im Westen: Im "Polizeiruf" stand immer der Täter im Mittelpunkt

Diesen neuen Akzent zuzulassen war ungewöhnlich, denn der größte Unterschied zum westdeutschen Tatort bestand ja darin, dass beim Polizeiruf immer der Täter im Mittelpunkt stand - und nicht wie beim "Tatort" der Kommissar. Allerdings gab es im Polizeiruf - lange Zeit zumindest - keine Kapitalverbrechen, weil es ja in einem idealen sozialistischen Staat eigentlich gar keine Verbrechen geben durfte, so wie es ja auch in der DDR keinen Kapitalismus gab. Es gab Unterschlagung von Volkseigentum, Betrug, es gab sogar Geldschrankknacker.

Beim Polizeiruf stand aber immer der Täter im Zentrum und die Frage: Wie konnte das geschehen? Was sind die persönlichen Umstände? Was hat die Menschen dazu gebracht? Das war wirklich spannend. Und über diese persönlichen und psychologischen Umstände bildete der Polizeiruf dann doch realistisch die DDR-Wirklichkeit ab. Die Regisseure, die Drehbuchautoren und Schauspieler wollten, dass darüber echte Gegenwart erzählt wird. Wenn man so will, war das die bittere Pille, die der Staat zu schlucken hatte, wenn er DDR-Krimis haben wollte.

Dazu passt, dass rund 90 Prozent der Filme vor dem Mauerfall auf echten Ereignissen beruhten, die für die Verfilmung von den Behörden freigegeben worden waren. Auch der für mich beste meiner Polizeiruf-Filme "Der Kreuzworträtselfall" beruhte auf dem wahren Fund der Leiche eines missbrauchten Kindes in einem kleinen Koffer an einer Bahnstrecke. In dem Koffer war eine Zeitung mit einem handschriftlich gelösten Kreuzworträtsel. Die Fahnder haben dann Tausende Haushalte aufgesucht und Schriftproben gesammelt, bis sie den Täter auf diese Weise überführt hatten. Das war keine Action. Aber es war unglaublich spannend.

In diese Filme wurden viel Sorgfalt und Liebe fürs Detail investiert. Richtig gutes Handwerk. Für einen 90-Minüter waren 25 Drehtage vorgesehen. Allein das zeigt, wie viel Wert dem Polizeiruf beigemessen wurde. Die Regisseure haben sich unglaublich intensiv mit den Stoffen auseinandergesetzt, genauso wie die Kameraleute und Drehbuchautoren.

Diese Sorgfalt würde ich mir auch heute wünschen, wenn über die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern in den Medien berichtet wird oder sich Politiker über sie äußern. Das ist oft so oberflächlich, weil man sich gar nicht richtig mit den Menschen auseinandersetzt. Nach 30 Jahren gibt es immer noch dieses Gefälle, das es bei einem partnerschaftlichen Verhältnis nicht geben sollte. Da hat sich seit dem Mauerfall nichts verändert. Ganz schlimm finde ich, dass der Osten einfach in die rechte Ecke gestellt wird, das finde ich sehr ungerecht. Wenn man sich das genau anschaut, sieht man, dass die Führenden der rechten Gruppierungen aus dem Westen kommen. Die haben erkannt, dass es dort so viele enttäuschte Leute gibt, die ihre Arbeit verloren haben und nicht wissen, wie es weitergeht. Da fehlt mir ein Gegenwartsfilm, der so in die Tiefe geht, wie damals der Polizeiruf.

Die Presse hat mich ja den Schimanski des Ostens genannt, weil der auch ein bisschen unkonventioneller war, etwas hemdsärmeliger als die anderen. Hat ja auch immer mal wieder "Scheiße" gesagt. Schimanski mochte ich persönlich wirklich schon immer am liebsten. Bei mir lag das Unkonventionelle ja schon darin, dass ich meine Fragen oft anders gestellt habe, als sie im Drehbuch standen. Ich habe das gemacht, damit mein Auftreten menschlicher wurde. Da genügte es schon, die Sätze umzudrehen, um mit meinem Gegenüber normaler reden zu können. Das machte den Leutnant Grawe handfester. Das war jemand, der sich nicht für was Besseres hält.

Weil ab und zu von den Fernsehzuschauern Beschwerden kamen wegen meiner Klamotten, Verstoß gegen die Kleiderordnung und Ähnliches, haben der Peter Borgelt, der meinen Vorgesetzten, den Hauptmann Fuchs, gespielt hat, und ich eine Szene eingebaut - natürlich nach Absprache mit dem Regisseur - in der Fuchs den Grawe richtig anscheißt: "Es gibt immer Beschwerden, und immer muss ich mich ärgern. Kannst du nicht mal ein bisschen auf deine Kleidung achten?" Und ich sage dann sinngemäß: "Ne, ich bleib' so."

Thomas Grawe hatte im "Polizeiruf" tatsächlich ein Privatleben - für damalige Fernseh-Ermittler ungewöhnlich

Ein Drehbuchautor hat dann dafür gesorgt, dass Grawe der erste Ermittler wurde, dem Privatsphäre zugestanden wurde. Was mir gefallen hat. Ein unsteter Typ. Erst verheiratet. Dann eine Freundin. Allein dieses Unkonstante war schon für die damalige Zeit ungewöhnlich. Sicherlich hat das der Figur eine gewisse Popularität verschafft, aber die Leute sind mir damals trotzdem ganz normal entgegengetreten. Das schönste Lob habe ich mal im Flugzeug bekommen, das war schon nach der Wende. Da kam jemand auf mich zu und sagte: "Sind Sie nicht der, der den Grawe gespielt hat?" Da habe ich genickt und der Mann hat gesagt: "Wegen Ihnen bin ich Polizist geworden. Ich bin jetzt bei der Kripo."

Nach der Wende ging es erst nach einer Pause wegen der Auflösung des DDR-Fernsehens weiter, aber ich wollte unbedingt die Serie "Oppen und Ehrlich" mit Uwe Friedrichsen machen und musste zwei Filme aussetzen. Als ich wiederkehrte, fiel mir auf, dass das Drehtempo höher geworden war. Man merkte nun, dass das alles viel Geld kostet. Ich habe dann nur noch zwei Polizeiruf-Filme gemacht. Auslöser für den Abschied war vor allem ein Gespräch, in dem ich gesagt habe: "Freunde, wir können doch nicht so tun, als wäre 1989 nichts passiert. Der Oberleutnant Grawe kann doch nicht so weitermachen, als hätte es keinen Mauerfall und keine Wiedervereinigung gegeben. Mit dem muss doch innerlich was passiert sein." Aber da hat man sich beim MDR nicht drauf eingelassen. Also habe ich gesagt: Dann drehen wir jetzt eben "Grawes letzter Fall".

Als ich nun nach dieser langen Pause noch mal gefragt worden bin, ob ich als Leutnant Grawe in den Polizeiruf zurückkehre, gefiel mir die Idee, den Grawe als Großvater zu zeigen, der seine Enkel versorgt. Dass dieser Polizeiruf zum 50. Jahrestag gesendet wird, wusste ich nicht. Grawe ist der Schwiegervater vom neuen Kommissar Lehmann. Vielleicht bleibt's bei diesem Auftritt - aber ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn noch weitere folgen würden.

Protokoll: Harald Hordych

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