Süddeutsche Zeitung

Amerikanische Literatur:Wer man sein möchte

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Colson Whitehead schildert den Horror in einer Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jugendliche. "Die Nickel Boys" zeigt, was Rassismus ist.

Von Nicolas Freund

Am schlimmsten ist die Angst. In der ersten Nacht weiß Elwood noch nicht, was ihn erwartet, als ein seltsames Geräusch über das Gelände der Nickel-Besserungsanstalt dröhnt und ihn aus dem Schlaf reißt. "Es kam von draußen, ein monotones Rauschen und Sausen. Bedrohlich und mechanisch und absolut nicht einzuordnen. (...) Auf der anderen Seite des Raumes sagte jemand: 'Da geht einer Eiscreme holen', und ein paar Jungs kicherten." Sie wissen, was dem Neuen noch bevorsteht, und auch der Leser weiß schon nach dem ersten Satz des neuen Romans von Colson Whitehead, wie die Geschichte enden wird: "Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger."

Seinen letzten, 2016 erschienenen Roman "Underground Railroad" über die Flucht der jungen Sklavin Cora von einer Baumwollplantage in den amerikanischen Südstaaten des 19. Jahrhunderts hatte Whitehead während der Präsidentschaft Barack Obamas geschrieben. "Immer, wenn man über den Rassismus der Vergangenheit schreibt, schreibt man auch über den Rassismus der Gegenwart", hatte er damals in einem Interview gesagt, als schon feststand, dass Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten auf Barack Obama folgen wird. Sein neuer Roman, "Die Nickel Boys", ist wie eine Fortsetzung von "Underground Railroad" ins 20. Jahrhundert, in dem es zwar keine Sklaverei mehr gibt, aber der Rassismus noch immer die gesamte amerikanische Gesellschaft durchdringt. Bis in die Sechziger herrschte strikte öffentliche Rassentrennung. Auch nach deren Aufhebung lauert der Rassismus wie ein Gespenst oder eine ansteckende Krankheit hinter vielen Gesten und Äußerungen.

Colson Whitehead ist, wie er einmal im Gespräch mit der SZ verriet, ein großer Fan von Horrorfilmen. Er hat sogar einen Zombie-Roman geschrieben, "Zone One", mit der Monsterjagd als großer Popkultur-Satire. Auch "Underground Railroad" hatte mit der Eisenbahn, die geflohene Sklaven unter der Erde aus dem Süden der USA in den liberaleren Norden brachte, ein fantastisches Element, das gegen den unvorstellbaren Maßstab und die Grausamkeiten der Sklavereiindustrie etwas verblasste. "Die Nickel Boys" ist dagegen ein realistischer Roman, aber trotzdem durchzieht den Text eine bedrohliche Atmosphäre, die Ahnung von einem lauernden Bösen - wie in einer Stephen-King-Story. Das unheimliche Dröhnen in der Nacht, eine Krankenschwester, wie eine "zu unheilvollem Leben erwachte Puppe, eine Gestalt aus Horror-Comics", Knochen in der Erde.

"Sie tat, als würde sie ihn nicht bemerken, und er startete eine Runde 'Rassismus oder schlechter Service?'."

Der kluge, sechzehn Jahre alte Elwood könnte auch eine Hauptrolle in Kings "Es" oder der Netflix-Gruselserie "Stranger Things" spielen. Obwohl er noch zur Schule geht, darf er dank der Vermittlung seines engagierten Lehrers Kurse am College besuchen. Er entscheidet sich für englische Literatur. Zur ersten Seminarsitzung trampt er, aber der Wagen, in dem ihn der nette Rodney mitnimmt, ist gestohlen. "Der Deputy hatte die Waffe gezogen. 'Dachte ich mir doch gleich, als es hieß, wir sollten auf einen Plymouth achten', sagte er. 'Den klaut nur ein Nigger.'"

Anstatt auf dem College landet Elwood als vermeintlicher Autodieb in der Nickel-Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jungen. Es ist kein Gefängnis und es gibt keine Mauern, aber die gibt es draußen auch nicht überall, und trotzdem konnte Elwood nie den Fun-Town-Vergnügungspark besuchen. Schwarze und Weiße werden auch im Nickel streng getrennt, nur ein mexikanischstämmiger Junge wird immer hin und her gereicht, je nachdem, welcher der sadistischen Aufseher gerade Dienst hat. "Wenn er an die Nächte im Nickel dachte, in denen bis auf das Weinen und die summenden Insekten Stille geherrscht hatte, fragte er sich, wie er damals in einem mit sechzig Jungs vollgestopften Raum hatte pennen und sich auch noch einbilden können, er wäre der einzige Mensch auf Erden. Alle waren da und gleichzeitig nicht." Identität ist in dem Roman ein Konstrukt. Die Frage ist nur, ob selbst geschaffen oder auferlegt. Freiheit heißt in dem Roman, selbst zu entscheiden, wer man sein möchte.

Das Nickel ist dazu in jeder Hinsicht der Gegenentwurf. Die Jungs werden dort zu Arbeit gezwungen, es gibt Schulunterricht, der aber ein Witz ist, da viele der Schüler nicht einmal lesen können, während Elwood mit Dickens-Romanen unterm Arm herumläuft. Es herrschen unter den Kindern die in solchen gesellschaftlichen Biotopen üblichen Grausamkeiten, die aber gegen die Brutalität der Aufseher vollkommen harmlos sind. Weil sich Elwood in einen Streit eingemischt hat, kommen sie eines Nachts, um ihn zu holen. "In der Zelle, in der man die Hiebe verabreichte, erblickte er eine blutige Matratze und ein nacktes Kopfkissen, übersät von den Abdrücken der Zähne, die die Jungs hineingeschlagen hatten. Außerdem: ein riesiger Industrie-Ventilator, Quelle des Dröhnens, des Lärms, der auf dem ganzen Anstaltsgelände zu hören war." Der Ventilator soll die Schreie der Jungen übertönen. "Eiscreme holen" ist unter den Schülern die Chiffre für das Auspeitschen. Manche kommen von diesen nächtlichen Entführungen nicht zurück.

Dieser Horror, den Whitehead in seinem Roman beschreibt, ist echt. Das Nickel gab es, es hieß Dozier School oder Florida School for Boys und wurde erst 2011 geschlossen. Seit wenigen Jahren werden die Geschichte der Anstalt und die Morde, die dort verübt wurden, vom Staat aufgearbeitet. Whitehead hat die Beschreibung der Schule, wie man sie in den Berichten der Polizei und des Department of Justice findet, kaum fiktionalisiert, aber die Geschichte Elwoods und seines Freundes Turner, die bald die Flucht aus dem Nickel beschließen, liest sich wie ein Abenteuerroman, dessen Spannung aber immer wieder von der eigenen Handlung unterlaufen wird. Denn Whitehead theoretisiert den Rassismus nicht, sondern zeigt ihn. Nicht nur den offenen Rassismus, wie die Rassentrennung, sondern das Erlebnis von Diskriminierung und das Leben mit jahrzehntealten Traumata, die sich manchmal nur an der Unaufmerksamkeit einer Kellnerin zeigen können. "Sie tat, als würde sie ihn nicht bemerken, und er startete eine Runde 'Rassismus oder schlechter Service?'."

Whitehead öffnete in seinen letzten beiden Romanen keine assoziativen Räume und erbaute keine komplexen, poetischen Konstrukte, obwohl er das auch kann, wie er zum Beispiel in "Zone One" oder "Der Koloss von New York" gezeigt hat. In seinen historischen Rassismusromanen setzt er ganz präzise und gezielt Motive und Themen in Kontext zueinander und erschafft eine mimetische Darstellung der historischen und der empfundenen Wirklichkeit. Er zeigt, wie sich Rassismus anfühlt, und nimmt den Leser durch die schnörkellose Darstellung mit in die Verantwortung, sich zu dem Horror zu verhalten und zu entscheiden, wer man sein möchte.

Colson Whitehead : Die Nickel Boys. Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Carl Hanser Verlag, München 2019. 224 Seiten, 23 Euro.

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Quelle:
SZ vom 08.06.2019
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