Süddeutsche Zeitung

Türkischer Schriftsteller:Wiedersehen mit der Welt

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Von Christiane Schlötzer

Mit der Zauberkraft des Schriftstellers könne er mühelos durch die Wände seines Gefängnisses gehen, hatte Ahmet Altan gesagt. Die Fantasie war sein schärfstes Schwert gegen die Absurdität eines türkischen Gerichtsurteils, das Haft bis ans Lebensende angeordnet hatte. Am späten Montagabend aber öffneten sich für Altan nach gut drei Jahren die Tore eines Hochsicherheitsgefängnisses in der Nähe von Istanbul. Zauberkraft war nicht im Spiel, sondern ein neues Urteil, das nicht weniger bizarr als das erste war, aber der Justiz offenbar einen Ausweg bot, um den Schriftsteller und Journalisten, dessen Inhaftierung international kritisiert wurde, auf freien Fuß zu setzen.

Altan wurde in einem neuen Verfahren von einem Gericht in Istanbul wegen "Unterstützung einer Terrororganisation" zu zehn Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Wegen der bereits abgesessenen Haftzeit ordnete der Richter danach seine sofortige Freilassung unter Auflagen an. Der 69-Jährige muss sich nun regelmäßig bei der Polizei melden. Im Juli hatte das höchste Berufungsgericht bereits das erste Urteil aufgehoben.

Das Ganze bleibt eine Tragödie. Die Vorwürfe stützten sich auf eine Talkshow, in der Altan kurz vor dem Putschversuch im Juli 2016 sagte: "Die AKP wird ihre Macht verlieren, und sie wird vor Gericht gestellt werden." Die AKP ist die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Aussage wurde von der Justiz als "unterschwellige Botschaft" an die Gülen-Bewegung gewertet, die die Regierung für den Putschversuch verantwortlich macht. Er habe immer nur für einen Machtwechsel durch Wahlen plädiert, verteidigte sich der Autor.

Ob er bedaure, so viele Jahre verloren zu haben? Das habe er seinen Widersachern nicht erlaubt, entgegnete Altan.

Am 25. November wird Altan in München der Geschwister-Scholl-Preis verliehen, wohl in Abwesenheit, denn mit den Meldeauflagen ist üblicherweise eine dauerhafte Ausreisesperre verbunden. Anfang Oktober hatten der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Stadt München, die den Preis verleihen, den Empfänger bekannt gegeben. Altan wird für sein Gefängnistagebuch ("Ich werde die Welt nie wiedersehen") ausgezeichnet, von dem die Jury sagte, es zeuge "vom Entschluss, trotz aller Entbehrungen stärker zu sein als die Vernehmer, Ankläger und Richter". Das Buch erschien vor einem Jahr, es wurde bereits in viele Sprachen übersetzt. Altan schildert darin auch das kafkaeske erste Verfahren, in dem der Richter, fast bedauernd, anmerkte: "Hätten Sie doch immer nur Romane geschrieben und sich nicht mit politischen Themen befasst."

Altans Romane sind voll historischer Bezüge, es sind Geschichten von Liebe und Intrige in Zeiten des Niedergangs der Sultanherrschaft. Wer will, kann darin heute aktuelle Bezüge lesen. Als einer der ersten Journalisten mahnte Altan schon in den Neunzigerjahren mehr Rechte für die Kurden an und nannte später die Ermordung und Vertreibung der osmanischen Armenier einen Genozid.

Als Altan am Montag kurz vor Mitternacht seine Zelle verlassen hatte, warteten vor den Gefängnismauern seine Tochter Sanem, Freunde und Journalistenkollegen auf ihn. Sie fragten, ob er bedauere, so viele Jahre verloren zu haben. Er habe sie nicht verloren, entgegnete Altan: Das habe er seinen Widersachern "nicht erlaubt". In seiner Zelle habe er weiter Bücher geschrieben. Aber er sei traurig wegen der vielen anderen, die das Gefängnis nicht verlassen durften. Altan sagte: "Da drinnen gibt es Tausende unschuldige Menschen."

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SZ vom 06.11.2019
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