Süddeutsche Zeitung

Rechtspopulismus:Die Wiederauferstehung der Bourgeoisie als Zombie

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Die AfD profitiert auch von der Verunsicherung eines Bürgertums, das seinen Wohlstand zerrinnen und seine Gründerzeitviertel zur Kulisse verkommen sieht. Eine bürgerliche Partei ist sie deshalb nicht.

Kommentar von Andrian Kreye

Die Münchner Fraunhoferstraße ist ein ganz guter Mikrokosmos, mit dem man die gegenwärtige Verunsicherung des deutschen Bürgertums wie mit einem Wimmelbild von Ali Mitgutsch illustrieren kann, ohne die sozialen Zerrspiegel des wachsenden Rechts- oder schwindenden Linksradikalismus zu bemühen. Denn die sind beide nur eine letzte Konsequenz jener Unsicherheit, die man in diese Münchner Straße hineininterpretieren kann. Gerade weil sie an einem Spätsommernachmittag genau jenes urbane Idyll vorspiegelt, das immer stärker zum Sehnsuchtsort und gleichzeitig immer unerreichbarer geworden ist.

Es gibt solche Straßen in jeder westlichen Großstadt. Und es ist diese Mischung aus Bürgerwohnungen, Handwerksbetrieben und Bohème-Kultur, die viele Menschen wieder aus der belaubten Ödnis der Vororte in die Innenstädte zieht. Auch und gerade weil sich dort die Vorstellung einer bürgerlichen Welt findet, deren Wertekanon und Bildungsschatz im Wechselspiel mit dem Erneuerungsdrang und Gerechtigkeitssinn der Bohèmes der Motor gesellschaftlichen Fortschritts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren. Ein Wechselspiel, das nicht mehr funktioniert. Weil es auf dem Prinzip der Hoffnung und dem Glauben an eine bessere Zukunft beruhte, das im Wachstumsmodell des Kapitalismus steckt.

Doch das Wachstumsmodell hat sich längst gegen seine Anhänger gerichtet. Zwischen dem Börsenkapitalismus der USA und dem Erbenreichtum in Europa zerrinnen dem Bürgertum und der Bohème zunehmend die Grundlagen des Wohlstands, auf denen sie existierten. Und auch die progressive Bewegung kämpft nicht mehr für eine bessere Zukunft, sondern für eine Rettung der Gegenwart - gegen Klimakrise, Populismus und die wachsende Ungleichheit.

Es ist genau diese Lücke, in welche Populisten der AfD nun mit ihrem Anspruch stoßen, die Stimme der Bürgerlichen zu sein. Da spaziert man zwischen den Reihen der Gründerzeithäuser, die in München nicht ganz so stattlich sind wie in Hamburg oder Frankfurt, die hier aber seltener von jenen freudlosen Zweckbauten unterbrochen sind, mit denen man nach dem Zweiten Weltkrieg die Schneisen schloss, welche die alliierten Bomberstaffeln geschlagen hatten. Man findet hier Handwerkerläden, Cafés und Buchläden, Antiquitätengeschäfte und Barbiere. Ein Gefühl urbaner Wohligkeit und Bodenständigkeit herrscht vor. Zumindest vermeintlich. Denn die Betreiber lassen sich den technischen Rückschritt von der Fertigungsstraße zur Nähmaschine, vom Elektrorasierer zur Klinge teuer bezahlen.

Und sicher findet man in solchen Vierteln kleine Architektur- und Designbüros, Agenturen und Galerien. Doch die Freiräume der Kreativität, die im späten 20. Jahrhundert noch Aufbruch bedeuteten, funktionieren heute nur noch als Dienstleister fürs Höchstpreissegment oder als Sprungbrett in die Verteilungskämpfe einer Industrie, die sich Kreative und Akademiker als intellektuelle Schoßhündchen hält, weil es einen guten Eindruck macht, über die Ethik der künstlichen Intelligenz zu debattieren, während man mit neuen Technologien gerade die weitreichendste Automatisierungswelle seit dem mittleren 19. Jahrhundert vorbereitet. Oder weil ein Designerholzhaus nachhaltiges Privatleben vermittelt, auch wenn die Führungsposition ganz andere Werte erzwingt.

Lässt man sich das Viertel von jemandem zeigen, der es seit Jahrzehnten kennt, wird einem die Kulissenhaftigkeit dieser Bürgerwelt deutlich. Die Dachwohnung mit den Atelierfenstern gehört einem Spieler des FC Bayern, die Mansarde mit Balkon ein paar Häuser weiter dem Vorstandschef eines internationalen Konzerns, und über allem ragt der Turm des "Seven", eines umgenutzten Heizkraftwerks, in dem vor acht Jahren die damals teuersten Wohnungen der Stadt verkauft wurden.

Jeder berufliche Standortwechsel, jeder Wunsch nach mehr Platz für die Familie macht den Angehörigen des Bürgertums hier auf dem überhitzten Immobilienmarkt deutlich, wie dünn der Firnis ihres Daseins geworden ist. "Zombie Urbanismus" nennt der norwegische Architekturprofessor Jonny Aspen solche Stadtviertel, die Bürgerlichkeit simulieren, aber letztlich nur die wachsenden Wohlstandsscheren manifestieren.

Bürgerliche Werte in Bedrängnis

Der Menschheit geht es dabei gar nicht schlechter. Es ist unter Intellektuellen seit einiger Zeit Mode, mit Statistiken historische Bögen zu schlagen, die zeigen, dass der Fortschritt keineswegs gebremst, sondern lediglich die Weltsicht der Menschen durch pessimistische Medien getrübt sei. Es stimmt auch, dass die Gewalt in den vergangenen Jahrhunderten stetig abgenommen hat, wie der Psychologe und Evolutionsforscher Steven Pinker schreibt, ebenso die Säuglingssterblichkeit und Armut, wie der Mediziner Hans Rosling zu Lebzeiten nachwies. All dies sind die Voraussetzungen für ein neues Konsumbürgertum, das sich in Asien, dem arabischen Raum und selbst in Afrika etabliert. Der ehemalige Rockstar David Byrne startete vergangene Woche sogar ein Online-Magazin mit dem Titel "Reasons to be Cheerful" - Gründe, um fröhlich zu sein.

Doch was nutzen exotische Erfolgsgeschichten und historische Horizonte, wenn das schleichende Gefühl, dass die bürgerlichen Werte und Grundlagen in Bedrängnis sind, immer stärker wird. Umso leichter ist es da für die Populisten der AfD, in diesem Vakuum eine Bürgerlichkeit für sich zu beanspruchen, auch wenn sie in Wahrheit aggressiv gegen die humanistischen Werte, die Weltoffenheit und den Fortschrittswillen dieses Bürgertums arbeiten. Eine Zombie-Bourgeoisie rührt sich da, die unter einem Deckmäntelchen aus feinem Zwirn und oberschulischer Bildung die fratzenhafte Antipodin des allzu freien Marktes bildet. Mit all ihrem Hass, ihrem Zerstörungswillen und ihrem Rückzug aus der humanistischen Moderne.

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Quelle:
SZ vom 07.09.2019
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