Süddeutsche Zeitung

Alexander Kluge zum 90. Geburtstag:Abschied von gestern

Lesezeit: 4 min

Als Filmemacher geht es Alexander Kluge um Teamarbeit, die Basis der Filme sind immer Zwiegespräche. Auf diese Weise hat er ein einzigartiges Werk geschaffen.

Von Fritz Göttler

Vom großen Atem der Filmgeschichte, vom legendären deutschen Kino der Zwanziger hat er einen allerletzten Hauch unmittelbar mitgekriegt, Ende der Fünfziger, da war er Regieassistent bei Fritz Lang, als der, nach Deutschland zurückgekehrt, das er 1933 fluchtartig verlassen hatte, in den Berliner Studios sein Indienspektakel drehte, "Der Tiger von Eschnapur". Und sehr viel mehr Weite und Größe verlangte, für die Geschichte, für die Dekors, als ihm der Produzent - Spandau war halt nicht Hollywood - gewähren mochte. Ich war, erinnert sich Kluge, der reitende Bote für seine Bannflüche.

Im Jahr 1962 gehörte Kluge dann zu den neunzehn Filmemachern, die das Oberhausener Manifest unterzeichneten, in dem sie - "Opas Kino ist tot!" - ein neues deutsches Kino forderten. Von den neunzehn sind die meisten heute vergessen, aber Kluge ist noch präsent und produktiv, mit immer neuen Filmen und Büchern. Ein gewaltiger Output, über sechzig Jahre hinweg. Und eine erfolgreiche Mischung aus Kreativität und Organisationstalent.

Den Kampf um neue Formen des Filmens und Erzählens hat er schon vor Oberhausen verbunden mit dem Kampf um neue Produktionsbedingungen - der promovierte Jurist Kluge schaffte es, eine staatlich garantierte Filmförderung im deutschen Kino zu installieren, später hat er dem Privatfernsehen ein intellektuelles Nischenprogramm abgetrotzt. An der neu gegründeten Hochschule für Gestaltung in Ulm war in den Fünfzigern auch an eine Filmabteilung gedacht, "Fritz Lang sollte unser Häuptling sein", aber am Ende war der den Gründungsvätern nicht zu vermitteln.

Godard sei sein filmisches Leitbild, sagt Kluge

Kluge will keinen Bruch im Kino der Bundesrepublik, "uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage", heißt es anfangs in seinem ersten Spielfilm "Abschied von gestern", für den er 1966 gleich den Silbernen Löwen beim Filmfestival Venedig bekam. Der Film stellt sich in die Tradition von Brecht, aber kommt ganz im Geist der französischen Nouvelle Vague daher. Kluges Schwester Alexandra spielt Anita G., in ihrem Gesicht blitzen Sehnsucht und Trotz auf, wie bei Anna Karina, die Nana S. war in Godards "Vivre sa vie".

Es treibt sie hinaus auf die Straßen von Frankfurt, in die Bruchstücke einer gesamtdeutschen Existenz. Ihre Kollisionen mit der Realität geben dem Film einen unglaublichen Drive, man spürt die Lust, mit den Formen zu spielen, vom "Struwwelpeter" bis zu Verdis "Don Carlos". Die Routine und forcierte Kontinuität des Films aufzubrechen - das Synthetische des Kinos sichtbar zu machen, wenn die Einstellungen, die Dinge aneinanderstoßen. Godard sei sein filmisches Leitbild, sagt Kluge, was er bei dem über den Gebrauch von Bildern und Tönen lernt, ist bei ihm dann mit deutschem Gedankenreichtum befrachtet.

Der Neuanfang in den Sechzigern war auch Rückbesinnung, die Rückgewinnung der deutschen Filmgeschichte - der vor der Unterbrechung durch die NS-Zeit. Meine Schwester und ich, sagt Kluge, waren Patrioten des Stummfilms, der zur "plebejischen Öffentlichkeit" gehörte, wie Jahrmärkte, Varietés oder Zirkus. Es geht um Programmvielfalt in diesen Künsten, darum, bewährte Versatzstücke in immer neue Kontexte zu fügen. Und es geht um Teamarbeit - Kluge war beim Schreiben wie beim Filmen immer besonders fidel, wenn er einen Mitspieler hatte, die Schwester Alexandra, Oskar Negt, Helge Schneider. Und Alfred Edel, ein Alter Ego in vielen Filmen, der als Professor Alexandra traktiert beim Aufnahmegespräch.

Kluges Erzählerstimme ist sanft wie die eines Märchenerzählers, ist reine Beschwörung

Kluge ist fasziniert vom Unterirdischem, das hat er gemeinsam mit Fritz Lang, in seinen Filmen geht es immer wieder in Höhlen und Katakomben und Gänge. Die Brüder Grimm werden exemplarisch als Schatzgräber vorgestellt in "Die Patriotin", sie haben die Märchen ausgegraben, wo man sieht, wie ein Volk über achthundert Jahre an seinen Wünschen arbeitet. Kluges Stimme, er erzählt meistens selber in seinen Filmen und TV-Programmen, ist sanft wie die eines Märchenerzählers, ist reine Beschwörung.

Der Manipulation der Filmindustrie und des Fernsehens setzt Kluge seine eigenen manipulativen Tricks entgegen. Er hätte sogar Adorno - sein philosophisches Leitbild? -, dem er als Student begegnete und der dem Kino gegenüber sehr sehr skeptisch war, umstimmen können, erklärt Kluge: "Er hätte mir nicht widersprochen, dass es die bewegten Bilder und die Kunst der Montage schon seit der Steinzeit (oder seit Erfindung der Sprache) im Kopf der Menschen gibt, gleich ob sie wachen oder träumen ... Wenn ich sage, dass die Filmkunst das Echo davon ist, hätte er zugestimmt."

Die Basis der Filme und der TV-Stücke sind Zwiegespräche, aber in Schräglage, ziemlich sokratisch, manchmal sophistisch. Wie vor Gericht kann es nützlich sein, sich dumm zu stellen, und man braucht auf Fragen nicht unbedingt Antworten erwarten. Plötzlich mischt sich Erfundenes in das sorgsam Referierte. Das hat dann freilich nicht mehr so gut funktioniert, als es bitter ernst wurde, mit dem deutschen Terror in "Deutschland im Herbst" und mit der Kandidatur von Strauß in "Der Kandidat", den Gemeinschaftswerken deutscher Filmemacher, die Kluge mitorganisierte.

Echtes Kino geht immer über die Ränder der Leinwand hinaus

Im späten Film "Die Macht der Gefühle", 1993, ist vehement zu spüren, was Kluge insgeheim umtreibt. Eine Sehnsucht nach großem Kino, die durch tausend Seiten dicke Bände und Dutzende Stunden Film und TV nicht erfüllt werden kann (15 Doppel-DVDs umfasst die Film-und-TV-Gesamtausgabe, die eben in der Edition Filmmuseum vorgelegt wurde). Ob er Godard beneiden mag, der das mit "Le mépris" schaffte, Farbe und Breitleinwand, Sonne, Meer, Fritz Lang ...?

Kluge weiß, Kino geht immer über die Ränder der Leinwand hinaus, das ist in dem Erzählstück beschrieben über die "letzte Filmvorführung in der Reichskanzlei", angesiedelt im Reich zwischen Fiktion und Dokument: April 1945, Sessel und Stühle sind in einem Saal der Reichskanzlei aufgestellt, von der Hausdruckerei wurden Eintrittskarten gedruckt. Es wird Harlans "Opfergang" gezeigt, da geht es um Liebe und Treue, die Cholera in Hamburg, um Selbstverleugnung und eine Herrenreiter-Geste.

Es ist kalt im Saal, der nach Bombenabwürfen oben offen ist, man sieht die Wolken. Die Vorstellung kann jeden Moment abgebrochen werden, falls feindliche Flugzeuge am Himmel auftauchen. Es ist ein "unveräußerlicher Augenblick ... ein an sich unmöglicher Augenblick". Wahres Kino, in der Zuversicht: The show will go on.

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