Süddeutsche Zeitung

Sprachlabor:Fällen, gell?

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In welche Fallgruben der Mensch mitunter tappt, wenn es um Gerichtliches geht: Entscheidungen dürfen fallen, Urteile nicht.

Von Hermann Unterstöger

MAN MÜSSTE einmal ausforschen, wie viele Gerichtsberichte mit dem anerkannt lapidaren und den meisten nicht weiter verdächtigen Satz "Das Urteil ist gefallen" beginnen. Eine weiterführende Recherche könnte sich dann auf die Frage richten, wie viele Leserbriefe durch diesen Satz angestoßen werden und ob darunter auch einer ist wie der, den uns Leser B. kürzlich schickte.

Herr B. schrieb, dass "Urteile nicht fallen, sondern gefällt werden", dass sie dann und wann aber "härter ausfallen als erwartet", womit man freilich "in den Bereich entwickeltes Sprachgefühl" komme, in eine Sphäre, die uns Leuten von der Presse jedoch verschlossen sei. Das neckische "gell?", das er nachschickte, milderte sein Verdikt nur ganz gelinde, doch hat er in der Sache natürlich ebenso recht wie unsere Leserin W.-H., die ähnlich argumentiert, ohne über unser Sprachgefühl ein vergleichbar harsches Urteil zu fällen. (Hier wäre ein weiteres Forschungsvorhaben am Platz. Es könnte zu eruieren versuchen, wie oft Urteile harsch genannt werden und in welchem Ausmaß dabei das winterliche Substantiv Harsch mitschwingt.)

Die fehlerhafte Verbindung von Urteil und fallen mag dadurch begünstigt werden, dass es Entscheidungen erlaubt ist zu fallen, und es ist auch denkbar, dass die Wortbedeutung von fällen - "fallen machen, zu Fall bringen" - auf den eingangs beschriebenen Holzweg führt: Ein Baum, der gefällt wird, fällt. Wieso sollte ein Urteil nicht dasselbe tun? Martin Luther scheint diesen Vorgang vor Augen gehabt zu haben, als er in seinem Sendbrief vom 6. September 1520 an Papst Leo X. schrieb, "dass, auf welche Seite das Urteil auch gefallen wäre, ein größeres Feuer ohne Zweifel sich entzündet hätte".

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