Süddeutsche Zeitung

Bildungskrise:Wie zeitgemäß ist Schule in Deutschland?

Lesezeit: 4 min

In seinem Gastbeitrag macht Professor Zierer drei Verbesserungsvorschläge fürs deutsche Schulsystem. SZ-Leserinnen und -Leser ergänzen ihre Prioritäten.

"Bildung, besser" vom 8. Juli:

Gute Ausbildung für Lehrkräfte

Ja, alles erscheint wichtiger, als über eine gute Ausbildung öffentlich nachzudenken. Auch die zaghaftesten bildungspolitischen Forderungen werden, wenn sie denn überhaupt noch in den Parteien angedacht werden, in Landeskoalitionsvereinbarungen marginalisiert und verschwinden schließlich hinter fehlenden bundesweiten Absprachen.

Professor Klaus Zierer ist zuzustimmen in seiner Auffassung, dass die Folgen der Pandemie die Bildungsungerechtigkeit verschärft hat. Auch teile ich seine Zweifel, ob bei den politischen Entscheidungsträgern ein echtes Interesse besteht, die derzeitigen Probleme zu erkennen, soweit sie über eine vordergründige Digitalisierung von Schule hinausgehen. Auch die SZ hatte ja vor geraumer Zeit ihre wöchentliche Bildungsseite aus ihrem redaktionellen Konzept gekippt.

Den drei Forderungen von Professor Zierer möchte ich jedoch nur sehr bedingt zustimmen. In puncto Lehrerbildung bedeutet dies zwar Haltung, aber eben eine Haltung, die über die Zuständigkeit für ein vermeintliches Begabungssegment innerhalb eines selektiven Bildungssystems hinausgeht. Lehrkräfte werden genötigt, das unsinnige Sortieren von Kindern auf weiterführende Schulen zu begründen, auch nehmen wir einen hohen Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern ohne Schulabschluss billigend in Kauf. Dringlich wäre dagegen die Forderung nach einer stufenbezogenen Lehrerausbildung. Ob eine Straffung und Streichung von Lehrplänen eine Individualisierung von Lernprozessen begünstigt, möchte ich infrage stellen. Wichtiger wäre mir eine Lehreraus- und fortbildung, welche die Fähigkeit vermittelt, Lernen verstärkt individualisiert organisieren zu können.

Sorgen wir dafür, dass die bei uns gültige Kinderrechtskonvention und das darin enthaltene Recht auf Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit (Artikel 29) endlich auch im System Schule eine größere Beachtung erfährt!

Gernot Zeitlinger, Wiesbaden

Fakenews entlarven

Ist es nicht die Aufgabe und Herausforderung von Schule, die Lehrpläne radikal zu entrümpeln, um Schülerinnen und Schüler zu befähigen, sich im Zeitalter der Informationskriege gute Informationen beschaffen und begründen zu können, wieso sie welchen Quellen vertrauen?

Die Nutzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Presse erodiert, weshalb auch das Zahlen der GEZ als Zumutung empfunden wird. Wichtige Personen der Zeitgeschichte sind teilweise nicht mehr bekannt. Aber was nützt mir die Kenntnis der Geschichte, wenn ich nicht weiß, warum ich in Deutschland eher dem Fernsehen als dem Internet trauen sollte, wobei es ja in Russland und Belarus genau umgekehrt zu sein scheint? Dann soll ich ja auch zu Recht für ein Referat auf gute Quellen im Netz zurückgreifen, obwohl es da ja auch so viel Fakenews gibt. Moment, wer sagt denn jetzt, dass dies Fakenews sind und das andere nicht? Außerdem scheint mir gerade Geschichte und Politik sträflichst vernachlässigt zu werden; allein das Stundendeputat in manchem Bundesland ist erschreckend.

Noch viel tragischer ist aber nicht mal das, sondern vielmehr politisches Desinteresse, weshalb auch das Wahlrecht nicht wahrgenommen wird. Vielen Schülerinnen und Schülern ist das Akronym NSU beispielsweise nicht bekannt. Gerade solche Wissenslücken öffnen doch Populisten jeglicher Couleur Tür und Tor.

Natürlich soll hier nicht die gesamte Schullandschaft über einen Kamm geschoren werden, aber ist es nicht auch gerade Aufgabe von Schule, jeder Schülerin und jedem Schüler die Möglichkeit zu bieten, eine mündige Bürgerin beziehungsweise ein mündiger Bürger zu werden?

Konstantin Willem Hollmeyer, München

Moderne Sklaverei

Ich stimme Professor Zierer zu. Wir haben eine Bildungskrise. Es fehlt jedoch noch das Thema Ausgrenzung von behinderten Menschen. Diese werden systematisch von Bildungsabschlüssen ferngehalten und in Sondereinrichtungen gesteckt, damit sie dort billig arbeiten dürfen ohne Menschenrechte, ich zitiere Raul Krauthausen: moderne Sklaverei.

Arbeiten in einer Werkstatt für Behinderte bedeutet Reha, keinen Status als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer - und keinen Mindestlohn. In diese ausgrenzenden Systeme wird so viel Geld gepumpt und sie sind doch erfolglos für die betroffenen Menschen. Oder wo sehen Sie einen behinderten Menschen arbeiten? In welchem Supermarkt, Restaurant oder Handwerksbetrieb sehen Sie Menschen mit Behinderung? Erleben Sie Menschen mit Behinderung in der Kunst oder Kultur, oder begegnen Sie einem Menschen mit Behinderung im öffentlichen Leben? Das ist eben nicht normal, so ausgegrenzt zu werden. Es gibt keine Teilhabe für Menschen mit Behinderung, daher sind sie auch nicht sichtbar.

Christine Friedel, München, Vorstand Gemeinsam Leben gemeinsam lernen e. V.

Lebenskunde als Fach

Klaus Zierer spricht von einer "Lehrplanreform" für alle Schularten, die dringend notwendig wäre. Dem kann ich voll zustimmen. Dass aber Kunst, Musik oder Sport "endlich ins Zentrum rücken" sollen, halte ich für nicht umsetzbar, angesichts der Grundkompetenzen, die für Lehre oder Studium leider oft fehlen, beginnend mit der Grammatik, der Rechtschreibung und dem Kopfrechnen. Lehrbetriebe können davon ein Lied singen, oder auch Dozenten an Hochschulen, wenn die ersten Seminararbeiten eingereicht werden.

Mir wäre ein neues Fach viel wichtiger - ich nenne es "Lebenskunde". Das könnte ab der Grundschule eine Wochenstunde sein, die die Klassenleitung frei zur Verfügung hat, um Inhalte und Themen selbst (oder auch mit den Schülerinnen und Schülern) altersgemäß zu planen. Das könnten Gespräche über aktuelle Situationen in der Klasse, in der Schule, in der Region oder in der Politik sein. Aber auch lebenspraktische Themen wie gesunde Ernährung, Umgang mit Medien, nachhaltige Lebensgestaltung, Klimaschutz oder freiwilliges Engagement. Lernen können die Schüler und Schülerinnen, dass Diskussionen und Diskurs dazugehören, dass Denken und Vernunft bedeutsam sind, um etwas nachhaltig zu verbessern. Wir brauchen mündige Bürgerinnen und Bürger mit mehr sozialer Kompetenz und mehr Gespür für die Bedeutung von Demokratie. Keine Egoisten, denen nur am eigenen Wohlergehen gelegen ist. Und dazu muss die Schule einen Beitrag leisten, bereits ab der Grundschule. Diese Chance sollte in der Lehrplanreform nicht vertan werden. Ein neues Fach "Lebenskunde" für alle Schularten könnte hierzu viele Möglichkeiten bieten, auch um der "Bildungskrise" entgegenzuwirken.

Dr. Anneliese Mayer, Taufkirchen

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