Süddeutsche Zeitung

Jobcoach:Wann verfallen meine Überstunden?

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Eine Firma stellt von Vertrauensarbeitszeit auf elektronische Zeiterfassung um und will die angesammelten Überstunden dabei unter den Tisch fallen lassen. Darf sie das?

Von Ina Reinsch

SZ-Leser Andreas R. fragt:

Ich bin seit 19 Jahren in einer Führungsposition tätig. Nun wird in meiner Firma von Vertrauensarbeitszeit auf elektronische Arbeitszeiterfassung umgestellt, das teilte man mir sechs Tage vor Beginn mit. Meine noch offene Mehrarbeit (mehr als 100 Stunden) will mein Arbeitgeber nicht anerkennen und nicht übertragen. Dabei kann ich mein Vertrauensarbeitszeitkonto auf die Schnelle gar nicht mehr ausgleichen. Finden Sie das korrekt?

Ina Reinsch antwortet:

Lieber Herr R., im vergangenen Jahr leisteten deutsche Arbeitnehmer etwa 1,7 Milliarden Überstunden. Nicht einmal jede zweite wurde vergütet. Rund 900 Millionen Stunden erbrachten die Mitarbeiter für lau. Da gibt es viel Konfliktpotenzial.

Bei Vertrauensarbeitszeit können die Mitarbeiter ihre Dienstzeit weitgehend eigenverantwortlich gestalten. Lediglich die Höhe der Wochenstunden wird festgelegt. Dass Ihr Arbeitgeber nun eine elektronische Arbeitszeiterfassung einführt, ist vermutlich einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs geschuldet. Dieser hatte 2019 entschieden, dass die Arbeitszeiterfassung in der EU durch ein objektives, verlässliches und zugängliches System erfolgen muss. Die bisher in Deutschland geltenden Dokumentationspflichten nach dem Arbeitszeitgesetz erscheinen nach dieser Vorgabe nicht mehr ausreichend. Viele Arbeitgeber stellen daher vorsorglich auf eine genaue Dokumentation der Arbeitszeiten um.

Es ist kein Geheimnis, dass Menschen mit Vertrauensarbeitszeit häufig mehr arbeiten, als sie laut Vertrag müssten. Die Frage, ob Überstunden bezahlt werden müssen oder abgefeiert werden dürfen, hängt dabei von vielen Aspekten ab. Sollten Sie einen Anspruch auf Vergütung oder Überstundenausgleich haben, darf Ihr Arbeitgeber bei einem Wechsel des Arbeitszeitmodells diese Stunden nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Ob dieser Anspruch besteht, ist allerdings oft gar nicht so einfach zu beantworten.

Überraschenderweise gibt es nämlich keinen allgemeinen Rechtssatz, dass Überstunden zu bezahlen sind oder abgefeiert werden dürfen. Manche Arbeits- oder Tarifverträge sehen das zwar vor, aber nicht alle. Existiert keine Regelung, richtet sich die Vergütungspflicht danach, ob der Mitarbeiter eine Bezahlung den Umständen nach erwarten durfte. Das Bundesarbeitsgericht stellt dabei unter anderem auf die Höhe des Verdienstes ab. Bei Arbeitnehmern, deren Gehalt die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung übersteigt, geht man davon aus, dass eine gesonderte Vergütung nicht zu erwarten ist. Arbeitnehmern, die weniger verdienen, müssen dagegen grundsätzlich einen Ausgleich für Überstunden erhalten.

Es kommt also hier auf Ihre konkrete vertragliche Regelung an und - falls es keine gibt - auf Ihre Position und Ihr Gehalt. In Arbeitsverträgen finden sich außerdem oft sogenannte Pauschalierungsklauseln, die Ihnen im Weg stehen könnten. Sie besagen, dass eine bestimmte Anzahl an Überstunden bereits mit dem normalen Monatslohn bezahlt sein soll. Die Klauseln haben jedoch ihre Tücken. Sie dürfen nicht zu pauschal formuliert sein, sonst sind sie unwirksam.

Doch es gibt noch weitere Hürden: So können Überstunden verfallen. Auch hier ist ein Blick in den Arbeitsvertrag nötig. Viele Verträge beinhalten nämlich eine sogenannte Ausschlussfrist, die einen zeitnahen Ausgleich der Ansprüche, also auch der Überstunden, vorsieht. Diese Frist muss mindestens drei Monate betragen - anderenfalls ist auch diese Klausel unwirksam. Außerdem verjähren Überstunden nach drei Jahren.

Für die angesammelten 100 Überstunden sind Sie zudem im Streitfall voll beweispflichtig. Das heißt, Sie müssen für jede einzelne Stunde darlegen und beweisen können, wann Sie geleistet wurde und dass sie vom Arbeitgeber angeordnet beziehungsweise geduldet wurde.

Wenn Ihnen jetzt der Kopf raucht, gehen Sie die Punkte Schritt für Schritt durch oder lassen sich beraten. Wenn es in Ihrem Betrieb einen Betriebsrat gibt, ist das auch ein Thema für ihn. Sollten Sie tatsächlich einen Anspruch auf Ausgleich oder Ausbezahlung der Überstunden haben, kann Ihr Arbeitgeber nicht von heute auf morgen beschließen, dass die Überstunden mit einem Systemwechsel verfallen.

Ina Reinsch ist Rechtsanwältin, Buchautorin und Referentin in München. Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Arbeitsrecht.

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