Süddeutsche Zeitung

Studieren um des Studierens willen:Der Bummelstudent

Lesezeit: 3 min

Eine Hommage an das Studium als Möglichkeitsform. Und eine Polemik wider die Stromlinie.

Gerhard Matzig

Zu den Bummelstudenten zählen Bill Gates, Otto von Bismarck und Heinrich Heine. Aber die waren nicht in der CDU und standen der Bild-Zeitung auch sonst nicht nahe. Halten wir uns an Helmut Kohl. Der nahm 1950 sein Studium der Geschichte auf und wurde acht Jahre später promoviert. In den rasenden Wiederaufbaujahren muss Kohl eine Mensch gewordene Langzeitstudie gewesen sein. Was ihn aber nicht daran hinderte, Kanzler zu werden. Und: Er wurde auch nicht behindert. Am allerwenigsten von der Bild-Zeitung.

Anders im Fall Annen. Der 33-jährige SPD-Politiker Niels Annen wollte im letzten Sommer für Eimsbüttel in den Deutschen Bundestag einziehen. Ein Umstand, der die Zeitung zu folgenden Fragen animierte. Erstens: "Weiß dieser junge SPD-Politiker wirklich, was Arbeit ist?" Zweitens: "24 Semester Berufsstudent: Was bringt so einer im Bundestag?" Ein Leser fragte drittens: "Wenn Sie nach 24 Semstern bisher unvollendeten Studiums das Berufsleben noch nicht kennen gelernt haben, wie wollen Sie dann die Interessen der Berufstätigen vertreten?" Während ein weiterer Leser, viertens, wissen ließ: "Leute wie Sie gehören ins KZ."

Niels Annen ist dann übrigens in den Bundestag gewählt worden. Ach, Deutschland. Nirgendwo lässt sich der Niedergang des so genannten Bummelstudenten von der kanzlertauglichen Langzeitstudie zum kampagnentauglichen Ressentiment besser erklären als hierzulande.

Wenn sich heute jemand um einen Job bewerben würde - rein fiktiv - jemand also, der ein Semester Medizin, zwei Semester Germanistik, fünf Semester Jura, sieben Semester Politische Wissenschaften und zehn Semester Architektur studiert hätte, was würde sich der Personalchef notieren? "Weiß-nicht-was-er-will!", "Ineffektiv!!" und "Undiszipliniert!!!".

Nicht genauestens zu wissen, was man will: Das kommt gar nicht gut an in einer Gesellschaft, die viel haben und wenig wissen will. Andererseits sollte man das Vielwissen mancher Bummler auch nicht überschätzen. Nicht selten ist das "Studium generale" nur ein generalistischer Fake. Aber eines könnte man würdigen: den Zweifel an der absoluten Planbarkeit des Lebens sowie jenen an der Effizienz-Gesellschaft.

Wie kann das angehen, dass jemand, der das Abitur erhält, schon so genau weiß, dass ihn das Praktikum bei Nokia im Versand, wo er auch ein bisschen Finnisch lernt, dann der Einsatz in der Kaffeerösterei in Brasilia und die 7,2 Semester in St. Gallen sowie die Zusatzqualifikation im Einhandsegeln für Kulturwirte einmal beruflich voranbringen werden? Eine Antwort bieten die grausamen Lebensumstände der "Generation Praktikum": Es bringt einen nicht unbedingt voran. Der Zufall ist in den Lebensläufen so wenig ausschaltbar wie die Unkalkulierbarkeit der Volkswirtschaften und der Arbeitsmärkte.

Ein Zuviel an Stringenz, Just-In-Time-Wissensproduktion und angepasster, scheinbar "nachgefragter" Qualifikation diskreditiert aber zunehmend all jene Lebensläufe, die auch aus Abzweigungen, Umwegen und Sackgassen bestehen. Manchmal sogar aus Persönlichkeit und Unverwechselbarkeit. Damit soll in Zeiten des Pisa-Schocks und eines Bildungsbegriffes, der lediglich der Ökonomie entlehnt ist, nicht der uneingeschränkten Bummelei das Wort geredet werden. Aber man kann doch darüber nachdenken, wohin eine Gesellschaft driftet, deren Wissensbegriff keiner der langsamen Bildung, sondern der schnellen Information ist. Für die alles jenseits der Rankinglisten (auch in Form von Studienzeitvergleichen) schierer Luxus ist.

"Der Bummelstudent", belehrt Wikipedia, "ist die umgangssprachliche Bezeichnung für einen Studenten, der die Freiheiten des Studentenlebens nicht dazu verwendet, sein Studium selbstverantwortlich individuell zu optimieren, sondern den Verlockungen der Möglichkeiten einer intensiven Freizeitgestaltung nachgibt und seine Studien vernachlässigt." Das klingt, als wolle man seine Oma vernachlässigen, um sich im steten Rausch der Drogen auf unverantwortliche Weise der Optimierung zu entziehen. Wobei wohl eher die ökonomistische Maximierung gemeint ist.

Bummelstudenten, die sich ihren Werdegang anders organisieren als erwünscht, gibt es seit jeher. Sie sind ein fester Bestandteil der Universitätsgeschichte. In der Literatur wurden sie aus moralisch-erzieherischen Gründen abgehandelt. Und in der Kunstgeschichte tauchen im 19. Jahrhundert Karikaturen auf, Radierungen zumeist, die studentische Trinkexzesse darstellen - fette Studenten mit ihren Mützen, die sich behaglich auf dem Sofa räkeln. Mark Twain, der damals Heidelberg bereiste, schrieb 1880 in "A Tramp Abroad": "Man sieht zu jeder Stunde so viele Studenten auf der Straße, dass man sich fragt, wann sie eigentlich arbeiten."

Daran hat sich offenbar kaum etwas geändert. Seit Jahren wird deutschen Hochschülern in Untersuchungen und Ratings bescheinigt, dass sie trödeln. Der globalistische Arbeitsmarkt der Wissensgesellschaft schreit aber nach zielgerichteter Ausbildung. Nur wird nicht weiter eingegangen auf den Unterschied zwischen Ausbildung und Bildung. Manchen Bummelstudenten, dem das Wissen so wichtig wie die Positionierung am Wissensmarkt ist, sollte man also unter Artenschutz stellen. Er droht - den Zahlen zum Trotz - auszusterben. Und mit ihm auch die Möglichkeitsform.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2006
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