Süddeutsche Zeitung

Home-Office:Zu Hause ist da, wo Arbeit ist

Lesezeit: 4 min

Früher war es die Norm, daheim in der Werkstatt oder auf dem Hof zu arbeiten. Die tägliche Fahrt zum Arbeitsort ist eine relativ neue Erfindung - die seit der Pandemie infrage steht.

Von Viola Schenz

Die zäheste Corona-Nebenwirkung ist vermutlich das Home-Office. Kaum eine Begleiterscheinung des Virus wurde dermaßen debattiert, analysiert, parodiert und inzwischen auch bilanziert. Jeder kennt nun Zoom, Slack, Facetime und Teams oder hat zumindest von diesen Videokonferenz-Diensten gehört. Soziologen, Psychologen, Mediziner, Arbeitsrechtler und Physiotherapeuten haben dank Home-Office einen neuen Untersuchungsgegenstand.

Ihren Umfragen zufolge teilt sich die Home-Office-Gesellschaft mittlerweile auf in: die Müden, die Hybriden und die Begeisterten. Drei Viertel der Arbeitnehmer haben sich prima an die gewonnene Autonomie gewöhnt und möchten flexibel entscheiden, wo sie arbeiten, völlig zurück ins Büro wollen nur 29 Prozent. Ältere bevorzugen das Home-Office - weil sie in der Regel etabliert sind und daher weniger auf Sozialkontakte angewiesen. Jüngere lehnen es eher ab - weil sie um ihre Karriere fürchten, denn durch die Abwesenheit könnten sie eher übergangen werden. Pendler wiederum haben es zu schätzen gelernt, nicht ständig unterwegs sein zu müssen.

Vor lauter Debatten ums Home-Office könnte man meinen, das Arbeiten von zu Hause aus sei eine Erscheinung des 21. Jahrhunderts. Ist es aber nicht. Den Lebensunterhalt daheim am Küchentisch zu verdienen, ist vielmehr Teil der Zivilisationsgeschichte und war jahrhundertelang die Norm. Seit der Antike hatten Handwerker ihre Werkstätten unter dem eigenen Dach und Händler ihre Läden.

Auch diejenigen, die ihre Arbeit und Güter in Kraxen und Planwagen durchs mittelalterliche und neuzeitliche Europa schleppten, waren stets häuslich vereint mit ihrem Gewerbe. In den Wagen verbargen sich neben Schlafstatt und Kochutensilien auch Werkzeug und Waren. Ausnahmen bildeten Beamte, die am jeweiligen Herrschaftssitz dienten, Soldaten in fernen Garnisonen, Sklaven, die auf Baustellen, auf Äckern und in den Villen der Wohlhabenden schufteten.

Kaufleute lieferten Rohstoffe an Handwerker und Heimarbeiter

Als Kapitalismus und Frühindustrie im 17. Jahrhundert in England und später im Resteuropa und in Nordamerika aufkamen, änderte das erst mal wenig an den Umständen, im Gegenteil. Das Heimgewerbe blieb bestehen, wurde sogar unerlässlicher Bestandteil der jungen, massenproduzierenden Industrien - quasi als Zulieferer. Ausgebaute Straßen und Handelswege, modernere Herstellungsmethoden (Dampfmaschine, mechanischer Webstuhl) kamen allen Beteiligten zupass, vor allem dem sogenannten Verlagssystem.

Dabei lieferten Unternehmer, meist waren es Kaufleute aus dem Fernhandel, Rohstoffe an Handwerker und Heimarbeiter, die sie dann zu Produkten weiterverarbeiteten - nach einem festen Zeitplan und Lohngefüge. Die Unternehmer organisierten den Kreislauf dieser Hausindustrie und traten mit den Materialien in "Vorlage", daher die Bezeichnung Verleger (was nichts mit heutigen Buch- oder Zeitungsverlagen zu tun hat).

Das Verlagssystem war seit dem Spätmittelalter in Europa weitverbreitet und das Rückgrat der verarmten Landbevölkerungen. Nicht nur innerhalb der europäischen Textilindustrie entstanden auf diese Weise regionale Zentren, etwa in Schlesien, in Sachsen, dem Rheintal, sondern auch im Eisen- und Metallgewerbe in Westfalen, im Sauerland und in der Eifel.

In England hieß die Hausindustrie "putting-out system", später "domestic system": Arbeiter holten sich Rohwaren, mitunter auch Werkzeug, von einem Zentrallager nach Hause, bearbeiteten sie und lieferten die fertigen Produkte ein paar Tage später gegen den vertraglich vereinbarten Preis wieder ab, und zwar möglichst schnell, denn bezahlt wurde nach Stückzahl, nicht nach Stunden.

In den USA waren 40 Prozent der Fertigungsarbeiter zu Hause tätig

Der schottische Philosoph und Ökonom Adam Smith beschreibt das System 1776 in seinem wichtigsten Werk "Der Wohlstand der Nationen" am Beispiel der Nadelhersteller, die in kleinen Manufakturen mit bis zu einem Dutzend Familienmitgliedern in der eigenen Hütte arbeiteten, in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Gerade für Mütter war es oft die einzig mögliche Verdienstquelle. Große Familien hingen von mehreren Einkommen ab, wer Säuglinge und kleine Kinder zu versorgen hatte, musste eben daheim Nachwuchs und Arbeit irgendwie unter einen Hut bringen.

Das Verlagssystem hielt sich lange, vor allem in der Textilindustrie. Rohstoffe und fertige Produkte waren weder zerbrechlich noch verderblich und ließen sich vergleichsweise einfach transportieren. Mittellose Bauern stellten sich bis ins späte 19. Jahrhundert Webstühle in ihre elenden Behausungen. Vor allem im Winter, wenn die Landwirtschaft brachlag, war Heimarbeit im Textilgewerbe die Norm, egal ob in Großbritannien, Frankreich, den USA oder in deutschen Ländern. Die schnell wachsenden Bevölkerungen, die großen Heere, die Hofgesellschaften mussten eingekleidet werden. Kolonien in Übersee lieferten Rohwaren wie Baumwolle (Indien, Ägypten), Schafwolle (Australien, Neuseeland), Hanf oder Seide (Asien).

Der Bedarf an Produkten aus der Hausindustrie war enorm, die aufkommenden Großfabriken konnten die Nachfragen nicht alleine decken. In den USA waren im frühen 19. Jahrhundert 40 Prozent der Arbeiterschaft in der Fertigungswirtschaft daheim tätig, schreibt das britische Magazin Economist, und um 1900 war das noch bei einem Drittel von Frankreichs Arbeiterschaft der Fall ("industrie à domicile").

In Großbritannien hinterließ das Heimgewerbe sogar in der Architektur seine Spuren: Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert haben oft besonders große - und seinerzeit kostspielige - Fenster im oberen Stock. Dort waren die Weber zugange, und sie brauchten ausreichend Licht für ihre mühsame Handarbeit.

Die Hausindustrie verlor irgendwann gegen den Fortschritt

Zeitgenössischen Intellektuellen war die Hausindustrie nicht geheuer. Karl Marx nannte den Heimarbeitsbetrieb "das auswärtige Departement der Fabrik, der Manufaktur oder des Warenmagazins", Max Weber sah in der Trennung von Wohnung und Arbeitsstätte "außergewöhnlich weitreichende Folgen", Gerhart Hauptmann rechnet in seinem Drama "Die Weber" (1892) mit der schindenden Heimarbeit in Schlesiens Textilindustrie ab.

Im Rückblick könnte man fragen, was weniger schlimm war: Sich daheim oder in einer Fabrik ausbeuten zu lassen? An beiden Stätten war die Bezahlung meist mickrig, die Abhängigkeit groß und das Leben armselig. Die Fabrik mit ihren geregelten Zwölf- bis 14- Stunden-Tagen garantierte eine gewisse Lohnsicherheit, doch bei Krankheit oder einem der - häufigen - Unfälle an den Maschinen war man den Job schnell wieder los. Wer bei der monotonen Arbeit in der halbmechanisierten Fabrikhalle einschlief, dem drohten Lohnentzug oder Entlassung.

Mit Heimarbeit konnte man bis zu einem gewissen Grad selbstbestimmt existieren, entscheiden, wie viel und wann man arbeitete, mitunter sogar ausreichend schlafen, weil einem der frühmorgendliche Weg zur Fabrik erspart blieb. Ein geschätzter Faktor, damals wie heute.

Die Hausindustrie verlor jedoch gegen den Fortschritt. Bergwerke und Fabriken mit ihren riesigen Maschinenanlagen brauchten Tag und Nacht Massen von Malochern. Gewerkschaften, Streiks, aufkommende Sozialgesetze und Tarifverträge machten Druck auf die Unternehmer und ließen die Löhne steigen. Die Werke wurden attraktiver. Um 1850 bekamen englische Fabrikarbeiter 20 Prozent mehr bezahlt als Heimarbeiter, so der Economist. Da war klar, wer das Rennen gewann. In Deutschland war 1900 der Anteil der Beschäftigten im industriellen Heimgewerbe auf 2,7 Prozent geschrumpft.

Verschwunden ist sie jedoch nie, sie hat sich auf andere Branchen und Berufe verlagert. Die Pandemie bringt Heimarbeit notgedrungen zurück und macht bewusst: Fürs Geldverdienen täglich das Haus zu verlassen, gar den Ort zu wechseln und irgendwo in einem Betrieb oder Büro mehrere Stunden zuzubringen, war vielleicht eine bloße Episode in der Menschheitsgeschichte.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5488527
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.