Süddeutsche Zeitung

Notfallsanitäter:Retter für Verletzte, Randalierer und einsame Damen

Lesezeit: 6 min

Mehr Geld, mehr Befugnisse: Der Beruf des Notfallsanitäters ist mit einer neuen Ausbildungsordnung attraktiver geworden. Doch viele halten den Job nicht lange durch.

Von Marco Völklein

Der erste Einsatz an diesem Dienstag führt Silja Wurm und Marcel Fleig in ein Einkaufszentrum. "In einen der größten Supermärkte Nürnbergs", wie Notfallsanitäterin Wurm gleich am Eingang sagt. Denn das bedeutet für die Retter mitunter: lange Wege, unübersichtliche Gänge. An diesem Tag aber helfen die Beschäftigten des Marktes mit: Ein Mitarbeiter empfängt den Rettungswagen schon am Eingang, bleibt auch dort und wartet auf den kurz danach eintreffenden Notarzt. Eine Kollegin führt Wurm und Fleig derweil zum Patienten.

Der liegt zwischen Billigklamotten und Dosenravioli am Boden, hat offenbar einen Kollaps erlitten. Zwei Ersthelfer kümmern sich bereits um den blass gewordenen Mann, Silja Wurm kniet sich zu ihm: "Was ist denn passiert?" Sie und ihr Kollege Fleig merken sofort: Das ist eine nicht ganz unkritische Situation; der Mann berichtet von mehreren Vorerkrankungen, von einer Leukämie und einer Herz-OP.

Wurm schließt den 72-Jährigen an das EKG an, Fleig legt an seiner linken Hand einen venösen Zugang, um eine Kochsalzlösung verabreichen zu können. Gemeinsam mit dem Notarzt bringen sie den Patienten erst in den Rettungswagen, dann in ein Nürnberger Klinikum. "Das war ein gutes Setting", sagt Wurm später - versierte Ersthelfer vor Ort, Einweiser am Eingang, genug Platz in dem weitläufigen Supermarktgang, um den Patienten versorgen zu können. "Da hat alles super gepasst."

Die 25-Jährige kennt aber auch andere Situationen. Seit etwas mehr als zwei Jahren arbeitet sie als Notfallsanitäterin für die Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) in Nürnberg, eilt mit dem Rettungswagen zu allen möglichen Tag- und Nachtzeiten zu den verschiedensten Einsätzen. Was ihr gefällt an dem Beruf? "Die Abwechslung", sagt sie. Der Umgang mit Menschen aus sämtlichen Schichten, dazu die medizinischen Herausforderungen - all das zeichne den Beruf aus, sagt sie. Ein Job im Büro oder eine Stelle als Fachkraft auf einer Station im Krankenhaus - würde sie das denn nicht reizen? "Nein", sagt Silja Wurm. "Ich will draußen sein auf der Straße."

Das aber will nicht unbedingt jeder. Wie in fast allen Ausbildungsberufen - und vor allem im Gesundheitswesen - sind Notfall- und Rettungssanitäter gesucht. Insbesondere in ländlichen Regionen zeichne sich ein Mangel an Bewerbern ab, sagt Alexander Hameder, Leiter Einsatzdienste beim bayerischen JUH-Landesverband. Zugleich gebe es aber gerade in Großstädten auch eine große Anzahl an Bewerbern, ergänzt Marion Leonhardt von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Man habe sich in den vergangenen Jahren stark für ein neues Notfallsanitätergesetz eingesetzt. "Durch dieses ist es gelungen, die Tätigkeit deutlich attraktiver zu gestalten als früher", sagt sie.

Tatsächlich gibt es den Beruf des Notfallsanitäters erst seit 2014. Vorher musste, wer zum Beispiel in Bayern verantwortlich auf einem Rettungswagen am Patienten arbeiten wollte, eine Ausbildung zum Rettungsassistenten absolviert haben. Und die hatte ihre Tücken: Während der insgesamt zweijährigen Ausbildung mussten Anwärter für die Kosten der Berufsschule selbst aufkommen; laut Leonhardt konnten dafür bis zu 8000 Euro fällig werden. Das an die schulische Ausbildung anschließende einjährige Praktikum bekamen sie mitunter gar nicht vergütet. Vielen in der Branche sei klar gewesen, dass das "nicht mehr zeitgemäß war", sagt JUH-Mann Hameder.

Viele Sanitäter wünschen sich mehr Rechtssicherheit

Nun also gelten neue Regeln. Die Ausbildung zum Notfallsanitäter dauert inzwischen drei Jahre und wird komplett vom Ausbildungsbetrieb bezahlt. Neben einer intensiven schulischen Ausbildung stehen unter anderem Praxisanleiter an Lehrrettungswachen den Auszubildenden zur Seite, die zudem während zahlreicher Praktika an Kliniken einen intensiven Einblick in viele medizinische Bereiche erhalten.

Zudem darf der Notfallsanitäter nun auch in bestimmten Fällen Medikamente verabreichen - wenngleich sich viele in der Branche wünschen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen konkreter gefasst würden. Bei vielen herrscht nach wie vor das Gefühl vor, ständig "mit einem Bein im Gefängnis" zu stehen.

Auch die Bezahlung wurde zuletzt angehoben, sagt Leonhardt: Nach den von Verdi ausgehandelten bundesweiten Tarifverträgen verdient ein Notfallsanitäter zu Beginn seiner Tätigkeit zwischen 2500 und fast 3000 Euro pro Monat, binnen fünf Jahren steigt der Verdienst bei den meisten Arbeitgebern (das können neben Hilfsorganisationen wie Rotes Kreuz oder Arbeiter-Samariter-Bund auch Kommunen und private Anbieter sein) auf gut 3600 Euro.

Unterhalb des Berufs des Notfallsanitäters ist auch weiterhin der des Rettungssanitäters mit einer abgespeckten medizinischen Ausbildung angesiedelt; er ergänzt quasi den Notfallsanitäter. So schreibt beispielsweise in Bayern das Gesetz vor, dass ein Rettungswagen künftig mit mindestens einem Notfallsanitäter als verantwortlichem "Transportführer" besetzt ist, ihn unterstützt meist ein Rettungssanitäter.

Doch egal, ob es sich um Notfall- oder Rettungssanitäter handelt - der Bedarf für beide Tätigkeiten dürfte in den kommenden Jahren weiter wachsen, das sagen viele in der Branche. Die alternde Gesellschaft wird die Zahl der Notfalleinsätze weiter steigen lassen, schätzen zum Beispiel Notfallmediziner der Uni München. Zudem dürfte vor allem in ländlich geprägten Regionen der Mangel an Hausärzten eher zu- statt abnehmen, viele Landkrankenhäuser müssen schließen oder ihr Angebot reduzieren. "Und wen rufen die Leute dann?", fragt Hameder. "Den Rettungsdienst."

Um die Patienten in die verbliebenen Krankenhäuser zu bringen, werden Rettungswagen künftig längere Strecken fahren müssen; entsprechend mehr Fahrzeuge plus Besatzung müssen dann vorgehalten werden, um die Versorgung zu sichern. "Die Zukunftsaussichten in dem Beruf sind sehr gut", sagt Hameder.

Und doch springen viele Notfallsanitäter nach einigen Jahren wieder ab. Laut Gewerkschaftsfunktionärin Leonhardt liegt die durchschnittliche Verweildauer in dem Beruf bei gerade einmal acht bis zehn Jahren. "Und das hat Gründe." Der Beruf sei "physisch wie psychisch sehr belastend". Einsätze mit Schwer- und Schwerstverletzten, mitunter auch mit kleinen Kindern, hinterließen ihre Spuren bei den Beschäftigten, sagt Leonhardt. Hinzu komme die körperlich anstrengende Arbeit.

An diesem Dienstag zum Beispiel fordert die Nürnberger Polizei Silja Wurm und Marcel Fleig an. Ein Mann, so meldet es die Leitstelle, habe Gegenstände aus seiner Wohnung im fünften Stock auf die Straße geworfen und sich anschließend in seiner Wohnung verbarrikadiert. Die Polizei lässt die Wohnung aufstemmen, beruhigt den Randalierer. Dann sollen Wurm und Fleig sich den Mann anschauen.

Bepackt mit zwei Notfallrucksäcken, jeder 13 Kilo schwer, stapfen die Retter durch das enge Altbau-Treppenhaus nach oben, einen Aufzug gibt es nicht. Läge ein internistischer Notfall vor, müssten sie auch noch EKG, Beatmungsgerät und Absaugpumpe schleppen. Und müsste der Patient am Ende ins Krankenhaus, müssten sie ihn, sofern er nicht selbst laufen kann, auf einer Trage oder einem Tragestuhl durch das enge Treppenhaus nach unten bugsieren. Und nicht immer - gerade auch auf dem Land - stehen zusätzliche Kräfte, beispielsweise von der Feuerwehr, bereit, um beim Tragen der mitunter auch übergewichtigen Patienten zu helfen.

Inklusive der Bereitsschaftszeit arbeiten Sanitäter bis zu 48 Stunden

Nur sechs Prozent der im Rettungsdienst Beschäftigten sind älter als 60 Jahre, sagt Gewerkschafterin Leonhardt. "Das heißt, dass viele es in diesem Beruf nicht bis zur Rente schaffen." Die Arbeitgeber sollten mehr moderne Technik anschaffen, um die Retter beim Transport von Mensch und Material zu unterstützen. "Da wird vielerorts noch dran gespart."

Zudem sollte die maximale wöchentliche Arbeitszeit von 45 oder gar 48 Stunden (inklusive Bereitschaftszeiten) verkürzt, die Dienstpläne verlässlicher gestaltet werden. Mit Sorge sieht Verdi auch die Ausweitung von 24-Stunden-Schichten und dass Bereitschaftszeiten mitunter nicht vergütet werden. Leonhardt findet: "Eine Verkäuferin wird schließlich auch in den Zeiten, in denen sie nicht bedient und auf Kunden warten muss, bezahlt."

Auch JUH-Mann Hameder räumt ein, dass die Herausforderung weniger sei, genügend junge Leute für die neu konzipierte Ausbildung zu begeistern, sondern die Beschäftigten "im System Rettungsdienst zu halten". Einsätze draußen bei Wind und Wetter, medizinische Maßnahmen in einer engen, verdreckten Bahnhofstoilette, keine planbaren Pausen - all das trage wenig zur Attraktivität des Berufs bei.

Manch einer steige aber auch aus, weil er sich den Berufsalltag ganz anders vorgestellt habe. "Bei 90 Prozent unserer Einsätze geht es nicht um lebensbedrohliche Vorfälle", sagt Hameder. Wer als Notfallsanitäter ständig nur "Blut und Action" erwarte, der liege falsch. Zwar würden die jungen Leute in der Ausbildung auf lebensbedrohliche Einsätze regelrecht gedrillt, "das wird wieder und wieder geübt, damit im Ernstfall alles sitzt". Bei der weitaus größeren Zahl der Einsätze gehe es aber um deutlich niederschwelligere Vorkommnisse.

Wie auch bei dem Gegenstände-Werfer in dem Nürnberger Altbau: Der stellt sich zwar als stark alkoholisiert heraus, sonst aber fehlt ihm nichts. Nach einem kurzen Gespräch ziehen Wurm und Fleig ab.

"Das A und O in dem Beruf ist Empathie", sagt Hameder. Die Helfer müssten sich auf ihr Gegenüber einstellen, auch mal nur Trost spenden und für den Menschen da sein. So berichten Wurm und Fleig zum Beispiel von einer älteren Nürnbergerin, die regelmäßig nachts um zwei oder drei Uhr die 112 wählt. "Im Grunde ist die Dame nur sehr einsam", sagt Wurm. "Und wahrscheinlich fühlt sie sich in der Situation dann auch so, dass ihr irgendetwas auf der Brust lastet und sie medizinische Hilfe braucht." In der Regel aber helfe es, sich mit der Dame hinzusetzen und zu reden. "Mehr braucht die oft nicht." Solche Fälle gebe es immer mehr, ergänzt Fleig; Fälle von Menschen, die irgendwie durchs Netz gerutscht sind, alleingelassen von allen anderen, überfordert in ihrer jeweiligen Situation. "Da bleibt oft nur der Rettungsdienst als allerletzte Anlaufstelle."

Wichtig sei für die Helfer, findet Hameder, auch aus solchen Einsätzen etwas mitzunehmen. "Wenn man die richtige Einstellung mitbringt", sagt er, "dann erkennt man, dass man auch zu so einem Einsatz nicht umsonst hingefahren ist." Am Ende sei entscheidend, mit einem guten Gefühl in den Feierabend zu gehen. "Mit dem guten Gefühl, heute wieder zehn Menschen geholfen zu haben." Wie auch immer diese Hilfe dann konkret aussieht.

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Quelle:
SZ vom 01.06.2019
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