Süddeutsche Zeitung

Kritik an Drosten-Studie:Offenheit mit Risiken

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Die hitzige Diskussion um eine Studie des Virologen Christian Drosten zeigt: Forschungsdebatten lassen sich im Netz leicht missbrauchen.

Von Kathrin Zinkant

Ein paar Sätze nur, mehr ist nicht nötig, um einen Forscher aus dem Himmel wissenschaftlicher Transparenz geradewegs in die Hölle der medialen Verunglimpfung zu katapultieren. Diese Erfahrung musste auch der international anerkannte Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité am Montag machen. Nachdem mehrere Wissenschaftler anderer Disziplinen im Netz fachliche Anmerkungen zu einer Studie aus seinem Institut gemacht hatten, gab der Forscher nicht binnen 60 Minuten die von einem Journalisten geforderte Stellungnahme ab. So entstand die Legende einer "falschen Corona-Studie" und eine Schuldzuweisung an den Forscher, die zu wiederholen nicht lohnt. Dabei ist das, was passiert war, eher Beleg für einen der wichtigsten Fortschritte der Wissenschaft in diesem Jahrhundert. Es ist "Open Science", die offene Wissenschaft.

Was das bedeutet, zeigt der Blick zurück. Noch vor 20 Jahren bekam die Öffentlichkeit nämlich wenig mit von den alltäglichen Diskursen in Fachkonferenzen oder den sogenannten Peer Reviews, für die eine zur Veröffentlichung eingereichte Arbeit von einer kleinen Auswahl beteiligter Experten begutachtet und natürlich auch kritisiert wurde. Die zeitlich aufwendigen Gutachten waren über viele Jahre die einzige echte Möglichkeit der Kontrolle von wissenschaftlichen Resultaten. Doch nicht alle Forscherkollegen hatten Zugang zu diesen Debatten oder auch zu allen Informationen, es handelte sich bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen oft um exklusive Veranstaltungen, von denen der Rest der Welt bestenfalls am Ende erfuhr.

Preprint-Veröffentlichungen erlauben eine zeitnahe Diskussion neuer Forschungsergebnisse

Das hat sich geändert. Forscher stellen Ergebnisse, Daten und sogar geplante Studiendesigns heute in großem Umfang ins Netz und machen ihre Arbeit damit einer größeren Zahl von Kollegen zugänglich - auch, um sie möglichst offen und ausführlich diskutieren zu können. Ein frühes Beispiel für die Wirkmacht dieser offenen Wissenschaft war das sogenannte Polymath-Project, das der Fields-Medaillen-Träger Tim Gowers 2009 in seinem Blog anschob. Binnen weniger Wochen schrieben knapp 30 Mathematiker mehr als 800 Kommentare - und fanden so die Lösung eines mathematischen Problems. Eine ähnliche Beschleunigung erfuhr die Physik durch das Netz, als das Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory (LIGO) in Hanford, Washington, 2015 ein Signal detektierte. Unmengen an Daten wurden augenblicklich verfügbar - nur zwei Jahre später erhielten drei US-Physiker den Nobelpreis für die Entdeckung der Gravitationswellen.

Das Prinzip der offenen Wissenschaft hat längst alle Forschungsfelder erfasst. Sogenannte Preprint-Server wie bioRxiv und medRxiv, auf die nicht im Peer Review begutachtete Fachartikel direkt hochgeladen werden können, haben auch in der aktuellen Corona-Krise einen schnellen und direkten Zugang zu aktuellen Forschungsergebnissen aus Virologie und Epidemiologie ermöglicht. Und sie gestatten eine zeitnahe, von sehr vielen Fachleuten getragene Diskussion über Methoden und Analysewege. Viele Debatten beginnen mit Verweis auf diese offenen Quellen auf Twitter. Doch gerade in Bezug auf das neue Coronavirus hat der intensive Austausch eben auch einen Haken: Während Forscher bei vielen anderen Themen auch online unter sich bleiben, ist das öffentliche Interesse am Thema Corona enorm. Die im Netz geführten Debatten über statistische Analysemethoden von virologischen Daten bleiben jedoch Fachdiskussionen, die sich in Sprache und Inhalt nicht von selbst erklären. Dessen sollten sich vielleicht auch die beteiligten Wissenschaftler künftig bewusst sein.

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Quelle:
SZ vom 27.05.2020
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