Süddeutsche Zeitung

Covid-19:Warum Kindern das Virus weniger stark zusetzt

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Von Clara Hellner (Text), Sören Müller-Hansen und Martina Schories (Grafiken)

Tausende Menschen auf der ganzen Welt sind bereits an Covid-19 gestorben. Das Virus Sars-CoV-2 setzte diesen Patienten schwer zu, schädigte ihre Lunge so stark, dass sie nicht mehr genug Luft bekamen, ihr Herz versagte oder sie einen Kreislaufschock erlitten. Gleichzeitig spüren viele Menschen kaum etwas von der Infektion mit genau dem gleichen Krankheitserreger. Sie haben ein wenig Halsschmerzen, fühlen sich vielleicht ein paar Tage abgeschlagen und müde. Diese große Spannbreite im Krankheitsverlauf, von gewöhnlichen Erkältungsbeschwerden bis hin zu einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung, ist charakteristisch für das Virus. Wie lässt sie sich erklären und was sagt sie über den Erreger aus?

"Gefährlich wird der Erreger für den Menschen vor allem durch seine Neuartigkeit."

Wie unterschiedlich die Krankheit verlaufen kann, zeigt sich besonders beim Blick auf das Alter der Patienten: Junge Menschen, vor allem Kinder, stecken Covid-19 auffällig gut weg. Zwar sind auch sie keineswegs sicher vor schweren Infektionsverläufen, wie WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus vor einigen Tagen warnte. Eine neuere, im Fachjournal Pediatrics veröffentlichte Untersuchung an mehr als 2000 chinesischen Kindern zeigt, dass auch den Jüngsten die Infektion gefährlich werden kann. Doch das bleiben Einzelfälle, die meisten infizierten Kinder haben ausgesprochen milde Beschwerden, wie Zahlen aus China belegen. Nur zwei von 1000 Kindern, die sich dort nachweislich mit Sars-CoV-2 angesteckt hatten, erkrankten schwer. "Wir haben noch nicht verstanden, weshalb der Verlauf bei älteren Infizierten schwerer ist, Kinder aber in den meisten Fällen kaum Symptome zeigen", sagt Ulrike Protzer, die in München in der Technischen Universität und im Helmholtz-Zentrum zu Viren forscht.

Doch die Wissenschaftler haben einige Vermutungen. "Gefährlich wird der Erreger für den Menschen vor allem durch seine Neuartigkeit", sagt John Ziebuhr, Direktor des Instituts für Medizinische Virologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Für den menschlichen Körper ist Sars-CoV-2 ein großer Unbekannter ohne Wiedererkennungswert. Zu deutlich unterscheidet das Virus sich von bereits bekannten Erregern. Auf Erstkontakt mit neuen Keimen ist der kindliche Körper deutlich besser eingestellt, er setzt sich in den ersten Lebensjahren ja ständig mit neuen Keimen auseinander. "Das Immunsystem reagiert bei Kindern deshalb sehr angemessen und ausbalanciert: Schnell und effektiv, aber nicht überschießend", sagt Ziebuhr.

Bei älteren Menschen funktioniert die Krankheitsabwehr anders. Ihr entscheidender Trumpf gegen Erreger sind die Erfahrungen ihres Immunsystems. "Für die allermeisten Virusinfektionen von Erwachsenen gilt, dass sich das Immunsystem bereits mehrfach mit dem gleichen oder einem sehr ähnlichen Virus auseinandergesetzt hat", sagt Ziebuhr. Steckt sich ein Mensch mit einem Grippevirus an, erkennen die Immunzellen den Erreger zumindest teilweise wieder und können bereits vorhandene, gegen dieses oder ein ähnliches Grippevirus gerichtete Immunzellen schnell reaktivieren und vermehren.

Infiziert sich ein erwachsener Patient jedoch mit einem völlig unbekannten Erreger wie dem neuen Coronavirus, versagt dieses Schema. "Für diese erstmalige Auseinandersetzung sind wir Menschen mit zunehmendem Alter immer weniger gut gerüstet", sagt Ziebuhr. Eine Untersuchung an 286 Patienten mit schweren Covid-19-Erkrankung im Tongji Hospital in Wuhan konnte zeigen, das ihr Körper wichtige, spezifisch gegen das neue Virus gerichtete Immunzellen nicht in ausreichender Menge produzierten. Denn diese entscheidenden Immunzellen müssen komplett neu gebildet werden. Und das dauert. So kann sich das Virus ungehindert ausbreiten - bei älteren Menschen, aber auch bei Patienten mit einem geschwächten Immunsystem etwa durch Krebserkrankungen oder aufgrund eines angeborenen Gendefekts. Die Viren ziehen vom Rachen in die Atemwege und weiter in die Lunge.

Es gibt allerdings vermutlich noch einen anderen Infektionsweg - und damit eine mögliche Erklärung dafür, dass auch junge Menschen mitunter schwer an Covid-19 erkranken: "Wenn ein infizierter Mensch sein Gegenüber aus unmittelbarer Nähe anhustet, kann eine große Virusmenge wahrscheinlich auch direkt in die oberen Atemwege gelangen", sagt Ziebuhr. Und sich so direkt in der Lunge vermehren.

Weshalb sterben deutlich mehr Männer als Frauen an einer Covid-19-Erkrankung?

Dort schädigen die Viren die menschlichen Körperzellen, es kommt zu einer Lungenentzündung. In den Lungenbläschen sammelt sich Flüssigkeit, die Wände zu den Blutgefäßen verdicken - und die Sauerstoffaufnahme aus der Atemluft ins Blut wird immer schwieriger. "Junge, gesunde Menschen können das meistens kompensieren", sagt Ziebuhr. Ihre Atemfrequenz steigt, das Herz pumpt das Blut schneller durch den Körper. Hat ein Mensch diese Reserven jedoch nicht mehr, kommt es zu Atemnot und gefährlichem Sauerstoffmangel. Ältere Patienten und Menschen mit Vorerkrankungen haben so ein besonders hohes Risiko, schwer zu erkranken. Dies belegt eine im International Journal of Infectious Diseases veröffentlichte Übersichtsarbeit chinesischer Forscher deutlich.

Gefährlich wird das Virus außerdem, das zeigt eine in der chinesischen Guangzhou Medical University durchgeführte Studie, wenn es sich im ganzen Körper stark ausbreitet und so ein unkontrolliertes Überschießen des Immunsystems auslöst. Dann schütten Immun- und Entzündungszellen massenhaft Botenstoffe aus. "Dieser sogenannte Zytokinsturm ist bei Kindern ebenfalls viel seltener als bei Erwachsenen", sagt John Ziebuhr. Im Körper richtet er großen Schaden an, bis hin zum Kreislaufschock und Lungen-, Nieren-, und Herzversagen.

Forscher spekulieren außerdem über eine Vielzahl weiterer Einflüsse, die eine Rolle spielen könnten, wenn es darum geht, wer an Covid-19 schwer erkrankt und wer nicht. "Etwa Vorinfektionen, bestimmte Umweltfaktoren oder einzelne Medikamente", sagt Protzer. Letzteres thematisiert eine von Schweizer Forschern im Fachjournal The Lancet geäußerte Hypothese: Viele der entscheidenden Vorerkrankungen wie etwa Bluthochdruck therapieren Mediziner mit Medikamenten, die im Körper dazu führen, dass ein bestimmter Rezeptor häufiger produziert wird. Und zwar ausgerechnet der, über den Coronaviren an menschliche Körperzellen andocken. Den Schweizer Forschern fiel zudem auf: Auch Diabetes, eine weitere häufige Vorerkrankung von schwer kranken Covid-19-Patienten, führt zu einer erhöhten Dichte genau dieses Rezeptors. Das stützt ihre These. Der Gießener Virologe Ziebuhr hält sie für "interessant und grundsätzlich vorstellbar, obwohl sie durch weitere Studien zusätzlich gestützt werden müsste".

Dann gibt es eine weitere, bisher ungeklärte Frage: Wieso sterben Frauen so viel seltener an der Krankheit als Männer? Nach Daten der Weltgesundheitsorganisation ist nur ein Drittel der an Covid-19 gestorbenen Menschen weiblich. Möglicherweise sind biologische Unterschiede zwischen dem weiblichen und männlichen Immunsystem von Bedeutung. Außerdem könnte eine Rolle spielen, dass Rauchen in vielen Teilen der Welt in der älteren Generation Männersache war, mutmaßt eine Forschergruppe um die Epidemiologin Clare Wenham im Fachjournal The Lancet.

Bisher gibt es schlicht zu wenige Untersuchungen an ausreichend großen Patientengruppen, um solche Hypothesen zu belegen. Doch unabhängig von den nicht abschließend geklärten Mechanismen dahinter: Dass die meisten Menschen, so etwa Kinder, die Infektion recht gut wegstecken, sei Anlass für Zuversicht, sagt der Virologe Ziebuhr. "Es zeigt, dass das Coronavirus - trotz seiner Neuartigkeit für den Menschen - keineswegs unbeherrschbar für das Immunsystem ist."

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Quelle:
SZ vom 30.03.2020
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