Süddeutsche Zeitung

Corona-Krise:Tempolimit für die Forschung

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Fast so schnell wie die Infektionen mit Sars-CoV-2 breiten sich derzeit Nachrichten aus der Wissenschaft aus. Nach dem Shut-down ist dringend ein Shut-up nötig.

Kommentar von Werner Bartens

Fast so schnell wie die Infektionen mit Sars-CoV-2 breiten sich derzeit Nachrichten aus der Wissenschaft aus. Permanent gibt es neue Meldungen zur Ansteckungsgefahr durch das neue Virus; Meldungen zu Tests und hoffnungsvollen Therapieansätzen, zum Sinn und Unsinn von Masken oder Simulationen über den Verlauf der Pandemie.

In der Krise arbeiten viele Forschungsinstitute vorbildlich zusammen, das neue Wissen ist frei, schnell und unkompliziert zugänglich. Auch die Lernkurve im Bereich der Virologie folgt einem nahezu exponentiellen Verlauf. Wären Wortspiele über das Virus nicht etwas heikel, könnte man von einer Pandemie des Wissens sprechen. So weit, so gut - es gibt also auch erfreuliche Nebenwirkungen der Seuche.

Es braucht ein Tempolimit für Fachartikel und andere wissenschaftliche Publikationen

Und doch ist nach dem Shut-down dringend ein Shut-up nötig. Einige Wissenschaftler und solche, die sich dafür halten, sollten einfach mal die Klappe halten. Vornehmer ausgedrückt braucht es ein Tempolimit für Fachartikel und andere wissenschaftliche Publikationen. Das liegt nicht etwa daran, dass die Menge der Beiträge nicht zu bewältigen wäre. Zwar gibt es derzeit so viel in so kurzer Zeit zu einem Thema zu lesen wie wohl nie zuvor in der Geschichte der Medizin, das Problem aber ist nicht die Quantität, sondern die Qualität.

Zwar war auch "vor Corona" die Mehrheit der Fachbeiträge von minderer Güte, doch in der Krise geraten wichtige Kontrollmechanismen außer Kraft. Viele Artikel erscheinen derzeit, ohne dass Einwände von Fachkollegen berücksichtigt worden wären, Preprint-Server tragen dazu bei.

Zudem erhält momentan alles, was die Begriffe Covid-19 oder Sars-Cov2 im Titel führt, gleichsam automatisch eine Dringlichkeit und Aufwertung, weil sich die Welt gerade kaum mit anderem beschäftigt. Und leider berücksichtigen viele Wissenschaftler in ihren Ausführungen nicht, ob sich ihre Forschung auf den Alltag übertragen lässt, für andere Länder ebenso gilt oder klinische Relevanz hat - sei es aus Eitelkeit oder verengtem Blick auf ihr Fach.

Wichtig sind jetzt Forscher, die ihre Ergebnisse richtig einordnen

Natürlich kann Wissen um seiner selbst willen von großer Anmut sein oder einfach nur interessant. In Zeiten von Corona verunsichert es jedoch, wenn Forscher Dummies im Windkanal mit Tröpfchen besprühen, ohne dass sich daraus ableiten ließe, ob sich Jogger im Windschatten eines anderen anstecken könnten. Ähnliches gilt für den Schocker, wonach sich Sars-CoV-2 sechs Tage auf Oberflächen hält. Die Studie fand im Labor statt, Viren wurden in ihrem Wohlfühlmedium aufgetragen, und ob von den Resten eine Gefahr ausgegangen wäre, blieb unklar. Auch die mittlerweile notorische Studie aus Heinsberg mit unsicheren Antikörpertests zeigt die Schwäche zu frühen Eureka-Geschreis.

Was es jetzt braucht sind Forscher, die ihre Ergebnisse richtig einordnen oder ansonsten zurückhalten. Presseabteilungen der Universitäten und Institute müssten bremsen und nicht alles zugespitzt rausblasen. Und die Medien sollten nicht jeden Text, über dem "Studie" steht, ungefiltert übernehmen. Dann, ja dann, könnte die Welt rasch von dem enormen Wissenszuwachs profitieren.

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