Süddeutsche Zeitung

Schule:Mädchen haben mehr Angst vor Tests

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Auswertungen der Pisa-Studie zeigen, dass 15-jährige Mädchen in der Schule unzufriedener und besorgter sind als Jungen - besonders in Deutschland.

Von Susanne Klein

Jungen können besser rechnen, Mädchen besser lesen. Was wie ein Vorurteil klingt, das auf den Müll gehört, wird von mittlerweile sechs Pisa-Studien mit Zahlen belegt. In jeder Runde waren Mädchen deutlich stärker im Lesen und deutlich schwächer in der Mathematik als Jungen. Pisa 2015 fügte dem Stereotyp eine Facette hinzu: Erstmals zeigten sowohl im Durchschnitt der 35 OECD-Länder als auch in Deutschland Jungen eine signifikant bessere naturwissenschaftliche Kompetenz als Mädchen. Die Differenz der Geschlechter hat sich zugunsten der Jungen verstärkt.

Ein Sonderreport von Pisa 2015 ergänzt das Bild nun. Nicht mit neuen Leistungsdaten, sondern mit Angaben zum Befinden. Demnach sind in Deutschland 41 Prozent der Jungen "sehr zufrieden" mit ihrem Leben - aber nur 27 Prozent der Mädchen. "Zufrieden" sind ungefähr gleich viele Jungen und Mädchen, als "eher nicht zufrieden" oder "unzufrieden" stufen sich wieder deutlich mehr Schülerinnen ein. Die Pisa-Macher sehen zwischen Leistung und Lebenszufriedenheit eine Relation: Schwache Schüler sind unzufriedener als starke Schüler - und bei den Mädchen ist dieser Effekt ausgeprägter als bei den Jungen.

Das spiegelt möglicherweise die schärfere Selbstkritik, die Mädchen im Teenageralter üben. Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass die überzüchteten Weiblichkeitsideale in den alten und neuen Medien die Selbstzufriedenheit heranwachsender Frauen negativ beeinflussen. Außerdem könnte der Pisa-Befund damit zusammenhängen, dass sich Studien zufolge die Zufriedenheit der Geschlechter bei Pubertierenden stärker unterscheidet als bei kleinen Kindern und älteren Menschen. Dabei wiederum spielt wohl eine Rolle, wie Jugendliche ihre Männlichkeit und Weiblichkeit präsentieren. "Es ist für Jungen nicht so kleidsam zu sagen, mir geht es nicht gut mit diesem oder jenem Aspekt. Bei Mädchen ist das sozial akzeptierter", sagt der Psychologe Michael Becker.

Becker hat am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung eine Analyse geleitet, die dabei hilft, den Leistungsvergleich der Geschlechter bei Pisa nicht misszuverstehen. Untersucht wurden Leistungstests von knapp 4000 Zwölfjährigen, die in Berlin zur Schule gehen. Die Studie bestätigt, dass Mädchen im Lesen und in Englisch, Jungen in Mathematik besser abschneiden. Beim Abgleich der Daten mit der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Eltern ergab sich jedoch: Die Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern fallen je nach Herkunft in allen Bereichen unterschiedlich aus. "Wären Mädchen von Natur aus eher sprachlich und Jungen eher mathematisch begabt, hätte der Geschlechterunterschied unabhängig vom sozioökonomischen Status konstant sein müssen. Das ist er aber nicht", sagt Becker. Das weise auf sozialisierte Unterschiede bei den kognitiven Kompetenzen hin, die von herkunftsspezifisch entwickelten Interessen und Selbstkonzepten bei Jugendlichen abhängen.

Weniger Mädchen als in anderen Ländern trauen sich ein Studium zu

Pisa hat die Schüler auch nach ihren Sorgen und Motivationen gefragt - und auch hier gibt es Unterschiede. In Deutschland äußern 15-Jährige seltener Schulängste als in fast allen anderen Ländern, dennoch ist gut jedes zweite Mädchen vor Tests selbst dann "sehr ängstlich", wenn es gut vorbereitet ist. Bei den Jungen fürchtet sich in dieser Situation etwas weniger als jeder dritte. Diese "Gender Gap" von 21 Prozent ist um ein Fünftel größer als im OECD-Durchschnitt. Deutsche Schüler sind also entspannter als andere, aber die Mädchen profitieren weniger davon. Die Studienautoren mutmaßen, sie seien weniger selbstbewusst und somit ängstlicher, verweisen aber auch auf soziale Normen, die es Mädchen eher als Jungen erlauben, Schwächen und Unsicherheiten zu zeigen.

Dazu passt der Befund, dass mehr Jungen als Mädchen angeben, sie wollten zu den Besten in ihrer Klasse gehören. Es erklärt jedoch nicht, warum in Deutschland dieser Geschlechterunterschied doppelt so groß ist wie im OECD-Schnitt. In den meisten Ländern rechnen demgegenüber weitaus mehr Mädchen damit, ein Studium abzuschließen. Nicht so in Deutschland. Hier wollen 19 Prozent der Schüler und 17 Prozent der Schülerinnen studieren.

Einen Pisa-Schock wie vor 17 Jahren lösen solche Zahlen nicht aus, nachdenklich machen sie aber. Für Eltern gut zu wissen: Geben Mädchen an, dass ihre Eltern sie zu mehr Selbstvertrauen ermutigen, lernen sie mit großer Wahrscheinlichkeit leichter. Jungen sind dafür nicht ganz so empfänglich. Und Lehrer wissen sowieso: Je besser ihr Unterricht zum Niveau der Klasse passt, und je mehr Zeit sie haben zu helfen, desto entspannter lernen Schüler. Egal, ob Junge oder Mädchen.

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Quelle:
SZ vom 24.04.2017
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