Süddeutsche Zeitung

Westerngrund:Das Herz Europas

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In Westerngrund gibt man sich sehr bescheiden, obwohl die kleine Gemeinde aus europäischer Sicht von absolut zentraler Bedeutung ist: Denn dort liegt der Mittelpunkt der Europäischen Union. Daraus Kapital schlagen zu wollen, scheint die Einwohner zu befremden

Von Katja Auer, Westerngrund

Als der Fokus der Öffentlichkeit die Gemeinde Westerngrund vor einiger Zeit, nun ja, streifte, da schrieb eine Zeitung - aus Berlin -, dass der Mittelpunkt der Europäischen Union nun am Arsch der Welt liege. Das ist freilich nicht besonders freundlich formuliert, dass Westerngrund im Landkreis Aschaffenburg aber trotz seiner aus europäischer Sicht nunmehr zentralen Lage nicht zu den Metropolen der EU gezählt werden kann, ist offensichtlich. Der Weg zum Herz der Staatengemeinschaft führt von Kleinkahl nach Westerngrund, vorbei an einer Weide, auf der die Kühe augenscheinlich recht zufrieden im Gras liegen. Am Vormittag ist es besonders ruhig in der Gegend, die Vögel erzeugen das dominierende Geräusch, gestört nur vom Dröhnen der Flugzeuge, die Kurs auf Frankfurt nehmen. Auf einer abschüssigen Wiese am Waldrand liegt er: der Mittelpunkt der Europäischen Union. 9 Grad östlicher Länge und 50 Grad nördlicher Breite. In der Nähe von so schön verträumt klingenden Orten wie dem Huckelheimer Wald, Edelbach und Vormwald.

Fünf Fahnen hängen da an ihren Masten, die der EU natürlich, die deutsche, die bayerische, die fränkische. Und die der Gemeinde Westerngrund mit dem Löwen darauf, den schon die Grafen von Schönborn im Wappen trugen, denen das Gebiet bis 1803 gehörte. Ein paar gepflegte Blumenbeete, der Schriftzug der Gemeinde und der EU auf Kies und der Hinweis: "Sie befinden sich am Mittelpunkt der EU". Am Waldrand weist noch ein Plakat auf das Vatertagsfest am Kindergarten hin. Sie machen nicht gerade ein großes Bohei um ihren Mittelpunkt, die Westerngründer.

Wer hätte das gedacht? Der Mittelpunkt der EU liegt in Bayern, besser gesagt in der unterfränkischen Gemeinde Westerngrund.

Betont wird die spezielle Örtlichkeit mit schlichtem Info-Stein und Fünffach-Beflaggung.

"Die Besucher von außen interessieren sich sehr, die sehen die Symbolkraft", sagt Dieter Schornick. Die Einheimischen nicht besonders und das kann der 65-Jährige nicht nachvollziehen. "Die Leute verstehen gar nicht, was die EU alles für uns tut", sagt er. Das ist seine Mission. Er will den Menschen die Europäische Union näherbringen. Und den EU-Mittelpunkt. Schornick lebt ganz in der Nähe, er ist vor vielen Jahren aus der Pfalz zugezogen. Als er mitbekommen hatte, dass nach dem Beitritt Kroatiens der neue Mittelpunkt nach Unterfranken verrutschen sollte, hat er gleich an die Gemeinde geschrieben. Er gründete eine Interessensgemeinschaft, die aber nur aus einer Handvoll Leute besteht. Schornick, früher Lobbyist der Elektroindustrie in Brüssel, wenngleich er sich lieber Berater nennt, veranstaltet Führungen und Fahrten nach Brüssel, er hat einen Europatag mitorganisiert und eine Schaufel Erde aus Westerngrund in die bayerische Vertretung nach Brüssel gebracht. Er hätte gerne einen kleinen Besucherunterstand am EU-Mittelpunkt. Und sonntags könnte man doch Crêpes verkaufen. Er hat einige Ideen. Aber mit seiner Euphorie steht er recht alleine da. "Es passiert nix", sagt er.

Unten in Westerngrund, das aus Oberwestern, Unterwestern und Huckelheim besteht, die sich bei der Gebietsreform zusammenschlossen, tauchen inzwischen immer wieder Besucher von weiter her in den Wirtshäusern auf. Auch in der Brotzeitstube "Zum Kuhstall" von Brigitte Heim, die außerdem die Bürgermeisterin von Westerngrund ist. Am Anfang, 2013, hatte sie ein paar Europafähnchen auf den Tischen, erzählt sie, "aber das hat auch nachgelassen". Bei ihr gibt es Presskopf, Bratwürste und Handkäse, nur der Wirt von der Fischerstube bietet "EU-Forellen" an. Die griechische mit Feta und Oliven, die englische belegt mit Kartoffelscheiben und Remouladensoße. Die Leute in Westerngrund seien schon stolz, sagt Heim, aber sonst? "Der Punkt ist da und mehr nicht."

Im Gästebuch am EU-Mittelpunkt haben Menschen aus aller Welt ihre Namen hinterlassen, aus Spanien und Tschechien, der Türkei und Neuseeland. "Möge die EU so friedlich sein wie sein heutiger Mittelpunkt", hat jemand geschrieben.

Wanderer kommen vorbei, wie im ganzen Kahlgrund, oft solche, die schon 20 Jahre in der Gegend Urlaub machen, erzählt Brigitte Heim. Aus dem Ruhrgebiet zum Beispiel. Um die 20 Gästebetten gebe es in Westerngrund, wegen des EU-Mittelpunktes hat niemand eine neue Pension eröffnet. Gut, es gibt jetzt den EU-Mittelpunkteweg, einen Wanderweg von Gelnhausen-Meerholz nach Westergrund. Und die Grube Wilhelmine in Sommerkahl lohne auch einen Besuch. Trotzdem. "Es ist halt hier nicht so, wie wenn man nach Neuschwanstein fährt", sagt sie. Pragmatisch sind sie wirklich in Westerngrund.

Für den Tipp bedanken wir uns bei Lina Pfuhlmann aus Gundelsheim.

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SZ vom 02.06.2015
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