Süddeutsche Zeitung

Lagebericht aus Elmau:Bayerisches Pjöngjang

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Pinkeln am Straßenrand? Sehr riskant. Wie immer gechillt mit Tempo 70 durch Oberau rollen? Bitte nicht! Eine Woche vor Beginn des G-7-Gipfels in Elmau lungern dort immer mehr bewaffnete Polizisten herum. Mit Normalität ist es für die Bürger erstmal vorbei.

Von Sebastian Beck

Kurzer Lagebericht aus der Region Garmisch: Eine Woche vor Beginn des G-7-Gipfels in Elmau lungern immer mehr bewaffnete Polizisten in Biergärten und Wirtschaften herum. Im Rückspiegel: Polizeiautos. Der Gegenverkehr: eine Polizeikolonne. Am Straßenrand bei Farchant: verirrte Polizisten. Das hat gravierende Folgen für den Alltag der Bevölkerung.

Mit dem Handy am Steuer - das geht nur noch, wenn man sich beim Fahren tief unters Armaturenbrett beugt und ein Periskop hochhält. Wie immer gechillt mit Tempo 70 durch Oberau rollen? Bitte nicht! Wahrscheinlich würde eine automatische Betonsperre aktiviert. Pinkeln am Straßenrand? Sehr riskant. Die Chance ist hoch, dass man einen NSA-Agenten trifft, der mit der Wärmebildkamera im Gebüsch liegt. Da geht der Schaden schnell in die Zehntausende. Und das muss man erst einmal der Haftpflichtversicherung erklären.

Regenwolken brauchen Überflug-Genehmigung

Garmisch ist in diesen Tagen nach Pjöngjang der am zweitbesten überwachte Ort der Welt. Selbst die Regenwolken brauchen eine Überflug-Genehmigung. Für Füchse, Marder und Dachse gilt Maulkorbpflicht bis 8. Juni. Steinböcke sind waffenscheinpflichtig. Maulwürfe wurde aufgefordert, in ihren Tunneln zu bleiben und das Graben einzustellen. Um im Ranking noch einen Platz aufzurücken, will das Bundeskriminalamt jetzt noch 10 000 Personen überprüfen.

Man beäugt sich ja selbst schon misstrauisch im Badezimmerspiegel: Na, haben wir antiamerikanische Gedanken gehegt? Hand aufs Herz, bist du wirklich der überzeugte Transatlantiker, als der du dich ausgibst? Mein Lieber, wie war das 1983? Da hast du doch mit der Schülerband für die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend geklampft? Und wie ging noch mal der Refrain? "Linsen, Wanzen, Tonbandgerät, Surren, wenn der V-Mann umgeht." Da wird doch eine gewisse Distanz gegenüber Verfassungsorganen spürbar.

Leider gibt es niemanden mehr, an den man sich mit seinen Selbstzweifeln wenden kann. Bei der bayerischen Polizei sitzt noch ein schwerhöriger Rheumatiker am Telefon - alle anderen sind in Elmau. Also schweigt man besser und fährt mit 50 durch Oberau. Ohne Telefon.

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Quelle:
SZ vom 30.05.2015
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