Süddeutsche Zeitung

Regensburg:Ihrer Heimat entrissen

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Im Roman "Wolfsgrund" verarbeitet die Schriftstellerin Gerda Stauner die Vertreibung von 3000 Oberpfälzern, die einem US-Truppenübungsplatz weichen mussten

Von Hans Kratzer, Regensburg

Es ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass vor nunmehr 70 Jahren mehr als 3000 Oberpfälzer auf brachiale Weise aus ihrer Heimat vertrieben worden sind. In jenem Jahr 1951 fiel die Entscheidung, den Truppenübungsplatz Hohenfels für die amerikanischen Streitkräfte zu erweitern. Der von dem Ausbau betroffenen Bevölkerung blieben nur wenige Monate Zeit, um ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen und sich anderswo eine Bleibe zu suchen. Das war schwierig genug. Es wurde zwar eine Entschädigung ausbezahlt, aber da die meisten Betroffenen in der Nähe weiterleben wollten, war der dortige Immobilienmarkt schnell leergefegt. Vielen blieb nichts übrig, als ihr Glück außerhalb der Oberpfalz zu suchen.

Die 1973 geborene Schriftstellerin Gerda Stauner lebt zwar in Regensburg, ist aber in der Nähe des Truppenübungsplatzes aufgewachsen. Die dortigen Geschehnisse haben sie ihr ganzes Leben lang begleitet. Schon deshalb lag es für sie nahe, einen Roman zu verfassen, der auf packende Weise die breit verflochtene Geschichte dieser Region thematisiert. Stauners Geschichte basiert unter anderem auf Berichten ehemaliger Bewohner, die diese "schreckliche Nachkriegszeit" auf dem Gebiet des heutigen Truppenübungsplatzes unmittelbar erlebt haben. Da während ihrer Recherche ein Wolf auf dem heute abgeriegelten und allein für militärische Zwecke genutzten Gelände gesichtet wurde, fand auch er seinen Weg in den Roman.

Der Titel "Wolfsgrund" steht aber auch für die Atmosphäre, die diese Gegend prägt. Hohenfels ist neben Grafenwöhr der zweite große Truppenübungsplatz in der Oberpfalz. Er dient aber nicht nur als militärische Nutzfläche. "Auch die Natur kann dort machen, was sie will", sagt Gerda Stauner. Flora und Fauna sind von einem Reichtum, wie er außerhalb des Truppenübungsplatzes kaum noch zu entdecken ist. Dazu passt auch die Leere eines verlassenen Dorfes und die Tristesse einer bei Militärübungen halb zerschossenen Kirche.

"Als Kinder sind wir quasi mit den amerikanischen Soldaten aufgewachsen, mit dem Lärm ihrer Panzer, mit ihren Lagern", sagt Gerda Stauner. Vor allem für Kinder war das alles ein großes Mysterium. "Wir haben nicht verstanden, warum das so war", erinnert sie sich. Als Reminiszenz blieb zudem, dass die Amerikaner auch in den 70er-Jahren Sachen wie zum Beispiel Leuchtstangen besaßen, "über die wir nur noch staunten". Es war eine andere Welt.

Schon in ihren ersten beiden Romanen "Grasmond" und "Sauforst" hatte sich Stauner am Beispiel einer Familie aus der Oberpfalz mit den Themen Heimat, Identität und Vertreibung auseinandergesetzt. In diesem dritten Roman ihrer Trilogie lässt sie den Journalisten Melchior Beerbauer mit sich und der Frage ringen, ob er das Geheimnis um seinen unehelichen Sohn lüften soll, den er mit der Frau seines besten Freundes gezeugt hat. Gleichzeitig beginnt er mit der Recherche über die Enteignung von Tausenden Menschen für den Truppenübungsplatz. Stauner vernetzt Melchiors Geschichte mit jener seiner Urgroßmutter, die das Dorf und ihre Jugendliebe als Mädchen verlassen hatte.

In beiden Zeitebenen und Handlungssträngen geht es um die inneren Kämpfe der Menschen, um Schuld, Sühne und Wahrheit. Die Spurensuche führt Melchior nach Schmidheim, das seine Großmutter einst verlassen hat. Aber Schmidheim gibt es nicht mehr, es ist heute Teil des Truppenübungsplatzes Hohenfels. Der Roman kreist geschickt um Phänomene wie menschliche Unbehaustheit, um den Wunsch nach Zugehörigkeit und um die Suche nach Heimat. Der Roman zeigt, dass sich Grundgefühle wie Leiden und Liebe nicht ändern, mögen sie auch unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geformt werden.

Als Gerda Stauner ihren Roman im aufgelassenen Dorf Schmidheim vorstellte, waren etliche ehemalige Bewohner des Ortes zugegen. Darunter auch der Regisseur Josef Rödl, dessen Familie das alte Wirtshaus bewirtschaftete, dessen Grundmauern immer noch stehen und das im Roman eine zentrale Rolle spielt. Bis heute treffen sich frühere Schmidheimer mit ihren Familien jedes Jahr im Juli auf dem Platz vor der Kapelle, um wie eh und je gemeinsam Kirchweih zu feiern. "Diese Leute haben es geschafft, mit einem positiven Gefühl rauszukommen", sagt Gerda Stauner. Sie haben beim Verlassen des Dorfes ein Stück Heimat mitgenommen und kommen jetzt mit einem guten Gefühl wieder zurück. Andere dagegen hadern mit dem großen Unrecht, das ihnen widerfahren ist. "Wir haben alles verloren", klagen sie.

Gerda Stauner, Wolfsgrund. Eine Spurensuche. SüdOst Verlag, 2019. Die gekürzte Hörbuchfassung erschien bei Plum Garden Publishing, 2021.

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SZ vom 08.04.2021
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