Süddeutsche Zeitung

Nürnberg:Schildchen statt Stolpersteine

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Jean-Francois Drozak etabliert eine neue Form des Erinnerns an deportierte Menschen

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

Eines Morgens stand da ein Mann im Hof der Drozaks. Er betrachtete die Fassade des Hauses in Nürnberg- Gostenhof, schien sich für Details zu interessieren. Geklingelt hätte er wohl nicht. Der Mann wollte mit etwas abschließen. "Und dabei ist eine Tür aufgegangen. Und seither gehen sehr viele Türen für uns auf", sagt Jean-Francois Drozak.

Der Mann im Hof war Alain Jesuran, 55, Kinderarzt aus Brüssel. Sein Vater hat ihm Unterlagen überlassen, aus denen hervorgeht, dass seine Großeltern in Gostenhof gewohnt haben. 1931 hatten sie genug Geld zusammen, um sich ein Haus in einem Stadtteil leisten zu können, in dem damals viele jüdischer Nürnberger lebten. Kurz vor Hitlers Machtübernahme sahen sie sich gezwungen, auf ein unmoralisches Angebot einzugehen. Sie verkauften das Haus, drastisch unter Wert. Mit drei Kindern flohen sie nach Belgien. Als das Land von der Wehrmacht besetzt wurde, musste die Familie sich verstecken. Ein Sohn kam in Auschwitz ums Leben.

Drozak, 45, muss schlucken, wenn er von dem Abend erzählt. Da schilderte ihm ein Belgier mit polnischen Wurzeln die Geschichte einer Familie mit jungen Kindern, die sich ein Haus gekauft hatten. Drozak stammt ebenfalls aus Belgien, auch seine Vorfahren hatten polnische Wurzeln. Und Drozaks haben sich kürzlich ein Haus gekauft, um es zu sanieren und die Kinder dort großzuziehen. Es ist jenes Haus in der Volprechtstraße 21, das vor knapp 90 Jahren die Jesurans erworben hatten. In einem Film würde man soviel Analogie für überzogen halten. Egal, wie der Verkauf 1931 juristisch zu bewerten sei - natürlich mache er sich "Gedanken, wie es moralisch vertretbar ist, dass wir nun hier wohnen", sagt Drozak.

Er hat seither überlegt, was er tun könnte. Stolpersteine in den Boden einlassen, um an frühere Bewohner zu erinnern? "Alain wollte das nicht", sagt Drozak. Dass Menschen mit Füßen auf Namen jüdischer Vorfahren treten könnten, fand er schwierig - Zweifel, die man vor allem aus München kennt. In Nürnberg werden zwar Stolpersteine in den Boden eingelassen, ganz unumstritten aber ist das nie gewesen. Drozak hat sich also umgehört, hat mit Schülern aus Gostenhof und den Leuten aus seinem Verein "Nordkurve" gesprochen. Gemeinsam kamen sie auf eine andere Idee: Warum nicht mit Namensschildern an Briefkästen an Deportierte erinnern? "Das irritiert und bringt einen Diskurs im Haus in Gang", sagt er. Und es wirft Fragen auf: Wer ist der Mensch, an den da erinnert wird? Wie lebte er? Womöglich auch: Sind alle Hausbewohner einverstanden mit dem Täfelchen an einem der Hausbriefkästen?

Die Namen der Deportierten stammen aus dem Gedenkbuch für die Nürnberger Opfer der Schoah. Die Stadt unterstützt die Initiative, "wir sind überzeugt davon", sagt Martina Mittenhuber, die Leiterin des Menschenrechtsbüros. Binnen zwei Wochen haben sich bereits zwei Dutzend Menschen gemeldet ( info@nordkurve.info), um ebenfalls Schilder an ihren Briefkästen anzubringen. Dass die Täfelchen ausschließlich in Häusern angebracht werden, aus denen die Deportierten auch stammten, hält Drozak für nicht notwendig. Es gehe ja um die Erinnerung an Nürnberger Bürger.

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Quelle:
SZ vom 10.08.2019
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