Süddeutsche Zeitung

Ausländerrecht:Ein übersehenes Drama in Nürnberg

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Eine 22-Jährige, die immer in Bayern gelebt hat, soll nach Äthiopien abgeschoben werden. Sie hat viele Vorstrafen, ist aber womöglich traumatisiert - wegen ihres Vaters, zu dem sie nun kommen soll.

Von Dietrich Mittler, München

"Ihre Chance, hier zu bleiben, ist sehr gering", sagt selbst der Anwalt von Aiyana Tesfaye (Name geändert). Voraussichtlich am Freitag soll die 22-Jährige von der Justizvollzugsanstalt Aichach nach Würzburg in Abschiebehaft gebracht werden. Die Liste ihrer Straftaten und Ordnungswidrigkeiten ist lang: Drogenbesitz, Beschaffungskriminalität wie etwa Diebstahl, zudem wiederholter Hausfriedensbruch im Nürnberger Hauptbahnhof und Tätlichkeiten gegen Mitgefangene. "Was ihren weiteren Aufenthalt in Bayern betrifft, ist es bereits fünf nach zwölf", sagt Tesfayes Anwalt Peter Holzschuher.

Kein Fall also, der einem Juristen Renommee verspricht. Warum also vertritt Holzschuher diese junge Frau? Und warum will er ihre Abschiebung nach Äthiopien verhindern? Die einfachste Antwort darauf wäre: Aiyana Tesfaye wurde 1999 in Nürnberg geboren. Als Tochter äthiopischer Eltern bekam sie aufgrund des geltenden Ausländerrechts zwar keinen deutschen Pass, ihre bisherige Lebensgeschichte spielte sich aber komplett in Bayern ab.

So weit das schlichteste Argument, das Holzschuher gegen eine Abschiebung seiner Mandantin vorbringen könnte - in ein Land, das sie nicht einmal ansatzweise kennt. "Sogar ihre äthiopische Mutter spricht Deutsch mit ihr, mit einigen wenigen amharischen Wörtern durchsetzt", sagt Alexander Thal, einer der Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats. "Rechtlich gesehen mag in diesem Fall alles korrekt sein", räumt Thal ein, und doch sei die Abschiebung der jungen Frau nicht mit dem humanitären Ansatz unserer Gesellschaft vereinbar. Starke Worte, betont selbst Thal. Aiyana Tesfayes Fall sei keiner, der sich eignet, "um auf die Tränendrüse zu drücken". Vielmehr einer, der Fragen aufwirft.

Dass Anwalt Holzschuher sich für seine Mandantin einsetzt, hängt vor allem mit den Angaben zusammen, mit denen sich die heute 22-Jährige beim Nürnberger Jugend- und Drogenhilfe-Verein "Mudra" um einen Therapieplatz bewarb - also bevor eine Abschiebung im Raum stand. Ihr Vater sei demnach "Führer in einer äthiopischen Glaubensgemeinde" gewesen. Habe sie als kleines Kind Bibelverse nicht fehlerfrei vorgetragen, sei sie drakonisch bestraft worden. "Wie in ihrem Lebenslauf angegeben, wurde meine Mandantin dann zum Beispiel nackt ans Bett gefesselt, ausgepeitscht oder ihr Brandwunden zugefügt", sagt Holzschuher. Strafe dafür, dass sie als Kind des Gemeinde-Chefs "ihre besondere Vorbildfunktion" nicht wahrgenommen habe.

Fakt ist: Mit 15 war Tesfaye heroinsüchtig. Hinzu kamen Delikte, deretwegen sie nun in Aichach in Haft sitzt. Barbara Steinbach, Sozialpädagogin bei Mudra, berichtet, Tesfaye habe keinen Therapieplatz erhalten, weil von Krankenkassenseite keine Bereitschaft bestand, ihr diese Therapie zu finanzieren.

Vor den Behörden schwieg Tesfaye über ihre Kindheitserlebnisse. Anwalt Holzschuher ahnt, warum: "Offensichtlich war sie aufgrund ihrer gegebenenfalls bestehenden Traumatisierung dazu nicht in der Lage." Sein Antrag, dass in Aichach ein psychiatrischer Gutachter mit der 22-Jährigen sprechen könnte, wurde von den Behörden zurückgewiesen. Und was Äthiopien betreffe, hieß es: Dort lebe ihr Vater, der sich ihrer annehmen könne - ausgerechnet der Mann, der sie womöglich schwer misshandelt hat.

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SZ vom 18.03.2021
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