Süddeutsche Zeitung

Neuchâtel:"Nerds verändern die Welt"

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Von Olaf Przybilla, Neuchâtel

Um in etwa verstehen zu können, was Michael Lindner antreibt, der für eine "bayerische Staatsbürgerschaft" kämpft, muss man sich seinen Lebensweg anschauen. Lindner ist im unterfränkischen Volkach aufgewachsen, bis es ihm dort zu eng wurde. Er zog nach Potsdam, studierte Volkswirtschaft in Zürich und arbeitet heute beim Schweizer Bundesamt für Statistik in Neuchâtel.

Das ist etwa 400 Kilometer entfernt von der bayerischen Landeshauptstadt, und aus einer solchen Entfernung, davon ist Lindner überzeugt, sieht man das, was im Freistaat schiefläuft oder zumindest deutlich besser laufen könnte, "oft wesentlich klarer" als die - sagen wir - bayerischen Inlands-Bürger.

Deshalb hat Lindner drei Jahre lang an einer Popularklage getüftelt, die das Ziel verfolgt, als Auslands-Bayer auch an der Landtagswahl teilnehmen zu können. Und zwar als Kandidat. Im Ernst, Herr Lindner? "Gewiss doch", sagt der 34-Jährige, "Sie wissen doch: Nerds verändern die Welt."

Tatsächlich liest sich die 48-seitige Klageschrift, die der gebürtige Franke beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof eingereicht hat, nur bedingt wie das Werk eines verschrobenen Sonderlings mit Spezialinteressen. Eher wie ein Fachartikel eines Rechtshistorikers mit konkreter Lust am Abseitigen. Lindner glaubt darin nachweisen zu können, dass die "längst tot geglaubte bayerische Staatsbürgerschaft" nach wie vor existiere und weiter von rechtlicher Bedeutung sei. Die Wählbarkeit von Auslands-Bayern wäre nach dieser Verfassungsargumentation am Ende nur eine Art logische Folgeerscheinung.

Primär versucht Lindner darzulegen, dass aus Bayern stammende Bürger, die jenseits der Landesgrenzen leben, durch das geltende Wahlgesetz diskriminiert und in Rechten verletzt werden, die ihnen zustünden. Derzeit sieht das Landeswahlgesetz vor, dass nur derjenige, der seit mindestens drei Monaten eine Wohnung in Bayern bewohnt, das aktive und passive Wahlrecht zum Landtag innehat.

Nun haben problematisierende Staatsbürgerschafts-Erörterungen nicht selten einen Hang ins Rechtslastige. Und die Forderung nach einer deutschen und bayerischen Doppel-Staatsbürgerschaft klingt verdächtig separatistisch. Mit nichts dergleichen, das will Lindner betont wissen, habe er etwas am Hut: "Ich bin seit 15 Jahren bayerischer Sozialdemokrat", sagt er.

Ihm gehe es im Gegenteil darum, wieder mehr an "die liberalen und freiheitlichen und fortschrittlichen Wurzeln" anzuknüpfen, die Bayern historisch mindestens genauso geprägt hätten wie die "konservativ-ländlichen". Solche Traditionslinien, davon ist Lindner überzeugt, verlören Inlands-Bayern im Alltag viel rascher aus dem Blick als Auslands-Bayern. "Und deshalb könnte dieses Land sehr gut einen Landtagsabgeordneten vertragen, der gerade nicht im Freistaat Bayern lebt."

Er würde also in der Schweiz leben bleiben - sollte der Verfassungsgerichtshof seiner Popularklage tatsächlich stattgeben und sowohl die Bayern-SPD als auch bayerische Wähler einen Statistiker aus Neuchâtel für geeignet halten, das Land als Parlamentarier zu repräsentieren? Selbstverständlich, sagt Lindner, gerade das wäre dann ja seine spezifische Qualität, die er ins Parlament einbringen könnte.

In der Schweiz etwa habe er gelernt, dass die Großstadt grundsätzlich überschätzt werde und überschaubare Orte wie St. Gallen oder Luzern eine bedeutende Rolle einnehmen können. Genau das ermögliche der Blick aus der Schweiz auf Bayern, ist Lindner überzeugt. Wäre er also Abgeordneter, würde er versuchen, die mittelgroßen Städte viel stärker zu fördern - Städte wie Bayreuth oder Bamberg, die etwa genauso groß sind wie Luzern, aber eine deutlich geringere Rolle spielen. Auch fränkisch-altbayerische Klischees würde er gerne aufzulösen helfen. "Lebt man in Franken, wirkt es mitunter so, als wäre im Großraum München alles aus Gold." Aus der Entfernung, nach elf Jahren in der Schweiz, sagt Lindner, relativiere sich da vieles.

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SZ vom 08.02.2017
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