Süddeutsche Zeitung

Nationalsozialismus:Spurensuche

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700 Lehrer jüdischer Abstammung lebten vor dem Krieg in Bayern, viele wurden von den Nazis ermordet. In einem BLLV-Projekt erforschten Schüler ihre Biografien

Von Julia Huber, München

Gut 90 Jahre, nachdem das Leben von Ferdinand Kissinger kippte, steht Katharina Steinegger vor seinem Haus an der Münchner Thierschstraße 25 und wundert sich über die Zufälle der Geschichte. Für ein Schulprojekt am Gymnasium Grafing ist die junge Frau den Spuren des jüdischen Lehrers Kissinger gefolgt. Ende der 1920er-Jahre unterrichtete er an einer jüdischen Schule in der Nähe, die Kinder nannten ihn den "dicken Kissinger". Nur wenige Hundert Meter weiter, in der Thierschstraße 41, wohnte zur selben Zeit Adolf Hitler. Ein erfolgloser Künstler, der später für die Ermordung von mehr als fünf Millionen Juden verantwortlich sein würde - auch für die von Ferdinand Kissinger. Zwei Männer, eine Straße und derart unterschiedliche Schicksale. Steinegger sagt: "Da steckt große Ironie drin."

Laut einer Recherche des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) lebten in den 1930er-Jahren mehr als 700 Lehrer jüdischer Abstammung in Bayern. Mindestens 160 wurden von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Andere starben vor der Deportation oder konnten emigrieren. Bei wieder anderen verliert sich die Spur.

Mit dem BLLV-Projekt "Erinnern" nehmen bayerische Schüler ihre Spur wieder auf. Sie sammeln Informationen, besuchen Schauplätze, sprechen mit Angehörigen. So entsteht für jeden jüdischen Lehrer eine Biografie: eine Sammlung aus Eckdaten, Zitaten und Fotos. Einige dieser Biografien werden bei einer Gedenkfeier an diesem Donnerstag im Münchner NS-Dokumentationszentrum vorgestellt. Projektleiterin Sabine Gerhardus sagt: "Die Schüler setzen sich mit der persönlichen Geschichte des Lehrers auseinander. Das ist völlig anders, als nur eine Opferzahl auswendig zu lernen."

So war es auch bei Jana Schmitt. Die heute 21-Jährige belegte den Kurs am Bamberger Eichendoff-Gymnasium. Am Anfang wusste sie nur ein paar grobe Brocken über Justin Fränkel: geboren 1896, Lehrer in Bamberg und Erlangen, später in die USA emigriert. Schmitt forschte nach. Sie verbrachte viele Stunden in Archiven, fand Gestapo-Akten, alte Briefe und traf sich sogar mit Fränkels Tochter, die heute in New York lebt. "Im Verlauf meiner Recherche fügten sich die einzelnen Puzzleteile seines Lebens Schritt für Schritt zu einem Bild zusammen", sagt Schmitt. So lernte sie einen hilfsbereiten und religiösen Mann kennen, der seine Freizeit am liebsten mit den Mitgliedern seiner jüdischen Gemeinde in Erlangen verbrachte. Der sich von 1933 an aber nur noch in der Dunkelheit traute, seine jüdischen Freunde zu besuchen. 1934 wurde Fränkel von einem SA-Mann mit einer Fahrradpumpe niedergeschlagen. 1937 musste er ins Gefängnis, weil er beschuldigt wurde, einen kleinen Jungen ermordet zu haben - der Schnitt am Hals des toten Jungen erinnerte die NS-Behörden an die Vorgehensweise, mit der Fränkel in seiner Freizeit Tiere koscher schlachtete. Jana Schmitt sagt: "Oft war ich erschüttert, wütend und sehr traurig, weil Justin Fränkel so viel Unrecht widerfahren ist."

"Für den BLLV stellt das Projekt ein ganz entscheidendes Stück der Aufarbeitung unserer eigenen Geschichte dar", sagt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Denn auch der BLLV schloss sich damals der Nazi-Ideologie an. Mit Josef Bauer wurde 1933 ein enger Vertrauter Hitlers zum Vorsitzenden gewählt. Die Mitgliederzeitschrift hetzte gegen Juden und Ausländer. Fleischmann sagt: "Wir haben ebenso Schuld auf uns geladen."

Katharina Steinegger reiste für das Projekt bis nach Kaunas im heutigen Litauen. Die Endstation für Ferdinand Kissinger. Der Lehrer wurde ins Neunte Fort deportiert, eine ehemalige Militäranlage, die die Nationalsozialisten zu einer Erschießungsstätte umfunktioniert hatten. Steinegger besichtigte das Lager, in dem Kissinger zwei Tage mit viel zu vielen anderen Häftlingen ausharren musste - die Schüsse von draußen gut hörbar. Sie sah den Graben, in den Kissinger sich für seine Erschießung am 25. November 1941 stellen musste. "Die Vorstellung war extrem bedrückend", sagt Steinegger. "Schockierender als jeder Geschichtsunterricht."

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SZ vom 25.01.2018
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