Süddeutsche Zeitung

Lokalhistorie:Der Ehrenkodex der Schaberer

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Vor hundert Jahren trafen sich arbeitslose Dorfener Handwerker am Rathausplatz und machten aus ihrer Not eine Tugend.

Von Thomas Daller, Dorfen

Die "Goldenen Zwanziger" gelten als Blütezeit der Weimarer Republik, aber insbesondere auf dem Land gab es eine hohe Arbeitslosigkeit. Der Dorfener Lokalhistoriker Franz Streibl, der 2022 den Kulturpreis des Landkreises Erding erhalten hat, hat dazu in alten Unterlagen einen interessanten Fund gemacht. Er stieß auf ein altes Foto der Schabererbruderschaft von Dorfen und auf ein Gedicht über diese, das vor genau 100 Jahren, 1924, verfasst worden ist. Bei diesen Schaberern handelte es sich insbesondere um Handwerker, die zwar eine Arbeitsstelle, aber keine Arbeit hatten. Sie trafen sich am Dorfener Rathausplatz, um über die schlechten Zeiten zu diskutieren und Wohlhabendere dazu aufzufordern, ihnen eine Mass Freibier zu spendieren.

Es waren schwierige Zeiten damals. Die wirtschaftliche Lage nach Kriegsende 1918 war desolat: Die zurückkehrenden Soldaten suchten Arbeit, die Kriegswirtschaft musste schnell auf Friedensproduktion umgestellt werden und die alliierten Sieger beschlagnahmten mit Lokomotiven und Waggons wichtige Teile der Infrastruktur. Hinzu kam die Hyperinflation, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte. Mit der Einführung der Rentenmark bekam man zwar die Inflation in den Griff, aber die Wirtschaft erholte sich nur langsam.

Man traf sich mit dem Schaber, der Arbeitsschürze

Die Schabererbruderschaft entstand laut Streibl in den Zwanzigerjahren. Sein Wissen basiert zum Teil auf Erzählungen seiner Mutter, Jahrgang 1899, die als junge Frau mit dabei war. In diesen schlechten Zeiten hatten Handwerker und Geschäftsleute wenig zu tun. Mangels Arbeit traf man sich am Rathausplatz und diskutierte über die schlechten Zeiten. Zu den Männern gesellten sich auch Kinder und junge Frauen aus den umliegenden Häusern und so bildete sich eine lustige Gesellschaft.

"Da die Männer alle von ihrer Arbeitsstätte kamen, wo es keine Arbeit gab", schreibt Streibl, hatten sie einen Schaber umgebunden, eine Arbeitsschürze, und so kam es zu der "Schabererbruderschaft". Das war eine Anlehnung an die damals gängigen kirchlichen Bruderschaften und nicht ganz ernst gemeint. "Es wurde dann erzählt", so Streibl weiter, "dass es zum Ehrenkodex eines Schaberers gehörte, sich nie so schnell zu bewegen, dass der Schaber flog, außer natürlich, es gab Freibier."

Bis neun Uhr schlafen und in der Sonne sitzen

Unter die Schaberer mischte sich auch der Heimatforscher und Heimatdichter Rudolf Kirmeyer, der ein Gedicht über die Schaberer verfasste. Darin verklärt er die Arbeitslosigkeit als selbst gewollt, sie würden lieber bis neun Uhr schlafen, in der Sonne sitzen und den Masskrug kreisen lassen.

Kirmeyer gehörte auch dazu, denn er wohnte im kleinsten Haus am Rathausplatz, neben dem früheren Frisörgeschäft Dichtl, heute Zeitschriften Weilnhammer. Seine Eltern waren Bürstenbinder und seine Mutter betreute die Marktwaage, bis sie nach München umzog. Kirmeyer war ein kreativer Kopf, der mit den Schaberern einiges unternahm. Er wurde später der Leiter des Kinderchors des Bayerischen Rundfunks.

Neben dem Gedicht hat Streibl auch noch ein Foto der Schabererbruderschaft gefunden. Handschriftlich sind die Namen vieler Schaberer eingetragen. Auch zahlreiche Kinder und Jugendliche befinden sich darunter.

Die Spur der Schaberer verliert sich 1932. Damals luden sie noch zu einem Preissingen auf den Gänsberg. Welcher Berg damit gemeint war, ist heutzutage nicht mehr bekannt. 1933, als Hitler die Macht ergriff, verschwanden sie wohl aus der Öffentlichkeit, als ihr ungewollt lockerer Lebenswandel zunehmend kritisch betrachtet wurde. Streibl nennt noch einen weiteren Faktor: Mit der Zeit seien dann die Aktivitäten der Schaber eingeschlafen, denn die Schaberer wurden älter, haben weg geheiratet oder sind umgezogen.

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