Süddeutsche Zeitung

Bildung:Schüler unter dem Radar

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Die Leiter von Grund-, Mittel- und Förderschulen beklagen den Fokus der Staatsregierung auf Gymnasien und Realschulen in Corona-Zeiten. Sie sorgen sich um die Kinder, die es ohnehin schwer haben.

Von Anna Günther, Ergolding/Thalmässing

Ottmar Misoph wechselt in diesen Tagen oft zwischen Gelassenheit und Rage. Nach 21 Jahren als Schulleiter bringt ihn wenig aus der Ruhe. Die Grund- und Mittelschule Thalmässing agiert unkonventionell und ist für den Deutschen Schulpreis nominiert, im Juli geht Misoph in Pension. Aber nun ärgert er sich seit Wochen, über den "Fokus des Kultusministeriums auf Gymnasiasten und Realschüler", über zu starre Strukturen und viele Anweisungen. "Das ist Aktionismus, mit 120 Schreiben helfe ich den Schulen doch nicht", sagt er. Rückenwind bekommt Misoph vom Bayerischen Schulleitungsverband (BSV), in dem Chefs der 2400 Grund- und 970 Mittelschulen organisiert sind. BSV-Chefin Petra Seibert kritisiert die "Informationspolitik" des Ministeriums und die Flut an Anweisungen, die Schulleiter an Belastungsgrenzen bringe.

Vieles war zu klären, um die Schulen wieder zu öffnen. Abstandsregeln, Hygienekonzepte, Unterricht in Schichten. Seit dieser Woche darf die nächste Gruppe nach zehn Wochen daheim wieder zurück. Rechnerisch ist die Hälfte der 1,6 Millionen bayerischen Schüler wieder in den Klassenzimmern. Nach den Ferien folgen sukzessive weitere Gruppen, es bleibt beim Wechsel zwischen digital daheim und mit Abstand in der Klasse. Schule ist möglich, trotz Corona. Ein Schritt gen Normalität. Dieses Signal sendet die Staatskanzlei an die Eltern. Bei den Schulleitern aber wächst die Sorge um jene Kinder, die durchs Raster fallen.

Es klappe zwar gut in Thalmässing, sagt Misoph, aber auch er sorgt sich. Seine Schüler arbeiten von der ersten Klasse an selbständig analog und digital, suchen sich ihren Platz normalerweise frei im Haus. Dass sie eigenständiges Arbeiten und ihre Lernprogramme kennen, mache vieles leichter. Trotzdem falle das Lernen daheim vielen Mittelschülern sehr schwer. Misophs Schule ist mit 200 Grund- und 150 Mittelschülern klein, Thalmässing ist eine ländliche, mittelfränkische Marktgemeinde. Kein Vergleich zu den Großstädten, findet Misoph. Aber auch er erzählt von Kindern, die in der Isolation depressiv wurden, und von großen Wissenslücken der Rückkehrer, die daheim keine Hilfe hatten. "Aber in den Elternbriefen des Ministeriums ging es vor allem um den Übertritt. Für Grundschüler mit Förderbedarf, für ausländische Kinder kam kein Brief. Sind die, die an den Mittelschulen bleiben, nur störender Beifang?", fragt Misoph. Gerade diese Kinder bräuchten nun Angebote und die Schulen Freiräume, um die Lücken aufholen zu können.

Die Viertklässler durften Mitte Mai als erste zurückkehren in die Grundschulen. Kinder, deren Notenschnitt nicht klar für Gymnasium oder Realschule spricht, sollten auf den Probeunterricht vorbereitet werden. Kultusminister Michael Piazolo (FW) wollte dadurch Druck rausnehmen. Ebenso mit der Ansage, dass kein Kind wegen Corona durchfallen soll. Die Zahl der ministeriellen Schreiben nahm nach Ostern auch zu, weil viele Eltern und einige Schulleiter klare Ansagen gefordert hatten. Misoph weiß das. "Aber wenn niemand durchfallen soll, muss ich diesen Kindern Angebote machen, wie sie im kommenden Schuljahr ihre Schwächen ausgleichen", sagt er. Und den Schulen zusätzliche Stunden spendieren oder Freiheiten eröffnen: Weniger Sport oder Religion für Mathe und Deutsch. Oder jahrgangsübergreifenden Unterricht, wenn Lehrer für Kleinstgruppen fehlen. Und davon ist auszugehen, denn schon vor Corona drohte den Volks- und Förderschulen ein Personalproblem, nun könnten Lehrer in Risikogruppen ausfallen. "Die Herausforderungen werden im kommenden Jahr extrem werden, jetzt wäre die Chance neue Strukturen auszuprobieren", sagt Misoph.

Hans Lohmüller sieht das genauso. Dabei hat er am Sonderpädagogischen Förderzentrum Landshut-Land schon mehr Möglichkeiten als Regelschulen: kleine Gruppen, enge Bindung zwischen Lehrern und Kindern, Raum für individuelle Wege. Aber das reiche jetzt nicht, sagt der Chef des Lehrerverbands Sonderpädagogik. Er fordert Konzepte für Privatstunden im Kinderzimmer. Es geht ihm um mehr als weiterführende Schulen oder Abschlüsse: Lohmüller denkt ans Grundrecht auf Bildung und an Teilhabe an der Gesellschaft: "Was ist mit den Kindern, die wir nicht in die Schule holen können, weil sie nicht in die Regeln des Infektionsschutzes passen?"

An den 350 Förderschulen geht die 50-Prozent-Quote nicht auf. Für viele Kinder ist die Schule zu riskant. An Förderzentren für geistige Entwicklung lernen bisher nur die Berufsschüler. Zu schwierig sei es, Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten, sagt Lohmüller. An seiner Schule mit Schwerpunkt Lernen und emotionale Entwicklung in Ergolding hängen überall Plakate mit Zeichnungen: Abstand, Mundschutz im Flur, in die Armbeuge husten. Das klappe. "Aber bei Kindern mit geistiger oder mehrfacher Behinderung ist es sehr schwierig." Sie brauchen viel Nähe, um zu lernen und zu verstehen. Nähe aber ist in Corona-Zeiten verboten. "Ich sehe die Gefahr, dass das Recht auf Bildung, das so hart erkämpft wurde, nun relativiert wird", sagt Lohmüller. Die Lösung für diese Kinder sei Privatunterricht.

Lehrer als Virenschleuder? Lohmüller winkt ab. Pädagogen, die nachweislich keine Viren in sich tragen, könnte er losschicken. Ebenso wie Kollegen, die immun sind. Dafür brauche es engmaschige Tests, Schutzkleidung, mehr Budget für freie Schulträger und deutlich mehr Personal.

Am Dienstag beschloss der Ministerrat, Corona-Tests auf Lehrer auszuweiten. Aber Kultusminister Piazolo nannte die Ankündigung von Ministerpräsident Markus Söder "ein Zeichen", spricht von "Wochen und Monaten". Hausbesuche hält Piazolo für unrealistisch, weil dafür Personal fehle. Aber nach den Pfingstferien dürfen alle Förderschüler wieder in die Schule. Kindern mit schwersten oder komplexen Behinderungen können sich befreien lassen.

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Quelle:
SZ vom 27.05.2020
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