Süddeutsche Zeitung

Albino-Rehe:Vier Beine, ein Horn und weißes Fell

Lesezeit: 1 min

Kolumne von Andreas Glas

Wenn man so will, dann ist das weiße Reh für die Bayern, was der Yeti für die Menschen im Himalaja ist. Gleiche Fellfarbe, beide bewegen sich sehr diskret in der Landschaft. Dem Yeti gelingt es nur etwas besser, sich vor den Menschen zu verstecken. Das weiße Reh ist minimal extrovertierter. Hin und wieder hüpft eines dieser seltenen Exemplare einem Fotografen vor die Linse. Das weiße Reh ist so selten, dass Der Neue Tag vor vier Jahren rätselte: "Ein weißes Einhorn in der Oberpfalz?" Unter der Schlagzeile hatte die Zeitung das Foto eines Lesers gedruckt, der ein fabelartiges Wesen bei Pullenreuth geknipst hatte. Vier Beine, weißes Fell, Horn auf der Stirn. Wie sich herausstellte, war es tatsächlich ein Einhorn. Ein einhörniger Albino-Rehbock, um genau zu sein. Einen Teil seines Geweihs hatte der Bock bereits abgeworfen, als das Foto entstand. Und ein einzelnes Horn war eben noch stehen geblieben.

Auch bei dem Tier, das sich vor zweieinhalb Jahren beim Planschen in einem Passauer Swimmingpool fotografieren ließ, hätte man zunächst an ein Einhorn glauben können. An eines dieser aufblasbaren Gummi-Einhörner, die inzwischen ja Pflicht sind für den trendbewussten Pooleigentümer. Es handelte sich aber, genau: um einen weißen Rehbock. Nun ist wieder ein Exemplar abgelichtet worden, in Waldkirchen, Bayerischer Wald. Ein Autofahrer hat das Foto im Vorbeifahren geschossen. Wobei das Wort "geschossen" hier ein sehr unpassendes ist. Denn unter Jägern gilt die Regel, keine Albino-Rehe abzuschießen. Das hat mit einer Legende zu tun: Verstößt ein Jäger gegen die Regel, stirbt er selbst innerhalb eines Jahres.

Man kann die Nicht-Abschuss-Regel durchaus für ungerecht halten. Vor allem dann, wenn man selbst ein Reh ist, ein ganz gewöhnliches, dessen Fellfarbe irgendwo zwischen braunrot und fahlgelb changiert. Darf ein Tier wegen seiner Fellfarbe benachteiligt werden? Die Natur hat da, wie immer, ihre eigenen Gesetze. Wegen des strahlend weißen Fells sind Albino-Rehe eine leicht auszumachende Beute für Luchse und Wölfe - sofern kein Schnee liegt, was ja meistens der Fall ist, wenn man als Reh nicht gerade im Himalaja wohnt. Der Yeti hat es da wesentlich leichter.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4775442
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.01.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.