Süddeutsche Zeitung

Katastrophenschutz in Bayern:Alarm auf dem Dach

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Angesichts der schweren Unwetter will der Freistaat die Bevölkerung wieder akustisch warnen und die Zahl der Sirenen verdoppeln. Doch dagegen regt sich auch Widerstand.

Von Johann Osel und Christian Sebald, München

Nach Debatten über womöglich unzureichende Warnungen vor Naturkatastrophen in Deutschland wird sich das bayerische Kabinett an diesem Dienstag mit dem Sirenen-Ausbau befassen. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte angekündigt, der Freistaat wolle die Zahl der Sirenen auf etwa 26 000 verdoppeln. Diese sollen als erste Stufe Menschen dazu animieren, sich über Details einer Krisenlage zu informieren. Nachdem lange Zeit Sirenen abgebaut wurden, merke man, dass sie etwa mitten in der Nacht "das akustisch wichtigste Mittel" seien.

Nach Informationen der SZ dürfte das Kabinett von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) zunächst eine Erhebung in allen Kommunen initiieren - über die tatsächliche Verfügbarkeit von Sirenen und deren Zustand. Es gibt keine zentrale Steuerung. Die Zahl von 12 000 bis 14 000 Sirenen, wie sie das Innenministerium angibt, beruht auf Schätzungen.

Bis Anfang der Neunzigerjahre hatte es deutschlandweit ein flächendeckendes, effizientes Sirenennetz gegeben. Viele Bürger kannten die Warntöne genau, regelmäßige Probealarme waren Alltag. Nach Ende des Kalten Krieges gab der Bund das Sirenennetz auf, bot es den Kommunen zur Übernahme an, inklusive Kosten. Aus diesem Grund, aber auch wegen der scheinbar entfallenen Gefahr, machten Städte und Gemeinden auch in Bayern zurückhaltend davon Gebrauch.

"Es ist nicht so, dass die Gemeinden bewusst auf die Geräte verzichtet und sie abgebaut haben", erklärt Wilfried Schober, Feuerwehrreferent des bayerischen Gemeindetags. "Es ist vielmehr ein schleichender Prozess. Wenn eine alte Sirene durch eine neue ersetzt werden müsste, weil etwa das alte Schulhaus abgerissen wird, auf dem sie steht, passiert das halt nicht." Ist dadurch Bayern im Katastrophenfall ausreichend gewappnet?

Die hohe Zahl von Toten beim Hochwasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz könne "als Indiz dafür gewertet werden, dass die Betroffenen entsprechende Warnungen nicht oder nicht rechtzeitig erhalten oder nicht ernst genug genommen haben oder nicht wussten, wie sie sich angesichts der Gefahrensituation richtig verhalten", hieß es kürzlich in einem Dringlichkeitsantrag von CSU und Freien Wählern im Landtag. Er fordert die Staatsregierung auf, sie solle das Sirenennetz prüfen und "gegebenenfalls erkannte Lücken" schließen.

Auch sei zu klären, ob die Bürger die Bedeutung der Signale verstehen. Zudem soll Bayern mit dem Bund die rechtlichen Voraussetzungen für Warn-Push-Nachrichten aufs Mobiltelefon schaffen.

Ein Ton, der "Tinnitus verursacht"? Die Suche nach einen Platz für die Sirene ist schwer

Wenn sich gerade keine Katastrophe ereignet, sind Sirenen weniger beliebt. Sogar auf dem Land, wo die Feuerwehr traditionell großen Rückhalt in der Bevölkerung hat, tun sich die Gemeinden immer schwerer, einen Standort zu finden. Anna Nagl, Bürgermeisterin der 3800-Einwohner-Ortschaft Falkenberg (Landkreis Rottal-Inn) kann das bestätigen. Seit vier Jahren streitet sie mit einem Bürger um die Sirene der Gemeinde. Er wollte sie nicht mehr auf dem Dach seines Hauses haben. "Sie war ihm zu laut, angeblich hat er von ihrem Ton einen Tinnitus bekommen", sagt Nagl. Ein neuer Standort musste her.

"Das war gar nicht so einfach, das Dach muss ja eine entsprechende Stromversorgung haben, einen Blitzschutz und natürlich einen Brandschutz", berichtet Nagl. Der neue Standort musste auch in der Nähe des alten liegen, "von dort aus erreicht sie den allergrößten Teil unserer Gemeinde." Doch eben auch den Mann, dem sie zu laut ist: 2017 zog er vor Gericht, da liegt der Streit immer noch. "Wir müssen das jetzt endlich durchziehen", meint die Bürgermeisterin und verweist auch auf die jüngsten Katastrophen.

Wilfried Schober vom Gemeindetag hat schon öfter von derlei Fällen gehört. Anwohner reagierten wohl immer empfindlicher auf das Heulen - obwohl sie vom Gesetz her Sirenen dulden müssen.

"Unser Ziel ist, flächendeckend und rund um die Uhr unsere Bevölkerung bestmöglich vor Gefahren zu warnen", betonte das Innenministerium auf Anfrage. Dazu gehöre der "Wiederaufbau eines engmaschigen Sirenennetzwerks". Die Bestandsschätzung von 11 000 bis zu 12 000 Sirenen in Kommunen zählt auch Feuerwehrsirenen, die mitunter noch zur Alarmierung von Einsatzkräften dienen oder als Reserve, falls die "Piepser"-Alarmierung nicht klappt.

Hinzu kommen 2500 Sirenen im Umfeld kerntechnischer Anlagen, seit 2017 läuft dafür ein Förderprogramm. Auf jeden Fall dürften es insgesamt zu wenig Sirenen sein. Auf Plenumsanfrage der SPD-Abgeordneten Martina Fehlner sprach der Innenminister kürzlich von "nicht flächendeckend vorhandenen Sirenenanlagen".

Beim bundesweiten Warntag blieb es gefährlich ruhig

Als 2020 beim bundesweiten "Warntag" vielfach Sirenen stumm blieben, kam das Thema bereits auf die Agenda. Derzeit gibt es zwei Programme des Bundes, beim neueren ist die Aufstockung durch die Länder noch offen; angesichts geplanter Verdoppelung wird es ohnehin um Finanzierungsfragen gehen. Der Landesfeuerwehrverband (LFV) begrüßt Herrmanns Initiative.

"Sirenen sind als zusätzliche Alarmierung oder Warnung der Bevölkerung sicher sinnvoll", sagt LFV-Geschäftsführer Uwe Peek. "Gerade nachts, wenn man das Handy womöglich in einem anderen Zimmer am Ladegerät hat und eine Warnung nicht gleich mitkriegt." Und auch, weil die Naturgefahren "eine neue Dimension" bekämen.

Die SMS-Benachrichtigung wird wegen Corona derzeit schon praktiziert. Einreisende erhalten automatisch eine SMS mit Quarantäneregeln. Für die bundesweit einzuführende Katastrophen-SMS wäre ein Funkzellen-System zu etablieren. Am Montag beriet der Innenausschuss des Bundestags darüber. Warn-Apps gibt es von privaten Betreibern sowie vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Nina-App). Hier wäre eher an eine Art Werbe-Offensive denken.

Auf ein Paket aus analogen und digitalen Warnmitteln zielt das Innenministerium ab, notfalls mit Lautsprecherdurchsagen. Der Landesverein für Heimatpflege erinnerte indes an eine althergebrachte Variante: das Wetterläuten. Früher habe so der Pfarrer oder Mesner die Leute bei Sturm gewarnt, damit sie vom Feld kommen und ihr Hab und Gut in Sicherheit bringen.

Mit dieser markanten Glocke könne "der penetranteste Handy-Alarm kaum mithalten".

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Quelle:
SZ vom 27.07.2021
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