Süddeutsche Zeitung

Mellrichstadt:Wo Angehörige Pflege üben können

Lesezeit: 3 Min.

Wenn ein Mensch plötzlich auf Unterstützung angewiesen ist, ist das für die Angehörigen oft ein Schock. Viele von ihnen fühlen sich überfordert. Es gibt Hilfen, zum Beispiel in Unterfranken. Doch die sind vielen Betroffenen nicht bekannt.

Von Vanessa Köneke, Mellrichstadt

Gemütlich sitzt die 76-jährige Doris Linzert in einem großen Liegesessel. Partner Rudi Pschyk, 73 Jahre alt, ist direkt neben ihr auf dem Sofa. Auf dem Tisch liegen Zeitungen. Es wirkt wie eine Alltagsszene vieler älterer Paare. Doch für die beiden ist es alles andere als Alltag. Es ist das erste Mal seit über einem halben Jahr, dass Linzert sitzt, geduscht hat und normale Alltagskleidung trägt. Monatelang war sie nur im Bett und hat sich nicht getraut aufzustehen. Außerdem befinden sich die beiden nicht im heimischen Wohnzimmer. Sie sind im sogenannten Pflegeübungszentrum (PÜZ) im fränkischen Mellrichstadt (Landkreis Rhön-Grabfeld).

Im PÜZ ziehen pflegebedürftige Personen und Angehörige für eine Zeit lang ein, um gemeinsam häusliche Pflege zu üben. Dabei können sie auch testen, ob Pflege zu Hause für sie überhaupt das Richtige ist oder doch ein Pflegeheim besser wäre, eine Art Pflege auf Probe. Manche PÜZ-Gäste kommen auch ohne Angehörige. Sie wollen erfahren, wie sie weiterhin alleine zu Hause leben können. Zwei Appartements stehen dafür zur Verfügung. Der Bedarf ist theoretisch enorm: Fünf Millionen Pflegebedürftige gibt es laut Statistischem Bundesamt in Deutschland. 84 Prozent davon werden zu Hause versorgt.

Im PÜZ geht es längst nicht nur um Pflegetechniken wie Heben, Waschen und Wundpflege. "Angehörige wollen oft eher wissen, wie sie damit klarkommen können, ständig verfügbar zu sein", sagt Initiatorin und Pflegedienstleiterin Ulli Feder. Sie erzählt von einem Ehemann, der vor allem kam, um zu lernen, wie er seiner Frau die Haare wäscht, ohne dass sie schreit. Zusammen haben sie erarbeitet, dass es schon hilft, wenn er selbst ausgeglichener ist. Ein Hauptaugenmerk des PÜZ liegt laut Feder daher darauf, die Menschen so zu festigen, dass sie die Situation zu Hause gut durchstehen. Studien bestätigten, dass vor allem die emotionale Belastung bei pflegenden Angehörigen hoch ist.

Auch Linzert und Pschyk sind nicht nur zum Technik Lernen da. "Ich möchte ein bisschen ausspannen", sagt Pschyk. Vom Hausarzt hat er vom PÜZ erfahren. Die Senioren wirken gefasst und dankbar. Doch dass die vergangenen Monate hart waren, ist beiden anzumerken. "Ich konnte ja gar nichts mehr machen. Nicht an der Spüle stehen, nichts", sagt Linzert. "Rudi ist mein bestes Stück." Tränen steigen ihr in die Augen. Die beiden sind erst seit wenigen Tagen in der Probewohnung, schöpfen aber schon Hoffnung. Sie können sich sogar wieder vorstellen, gemeinsam einkaufen zu gehen. Dabei soll ein E-Rollstuhl helfen. "Endlich mal wieder etwas anderes sehen", sagt Linzert.

Obwohl oft psycho-soziale Themen besonders wichtig im PÜZ sind, bekommen Gäste wie Linzert allerlei handfeste Unterstützungstipps vorgelebt. Sie erfahren, wie man per Smart Home, Sprachsteuerung und sogenannten Ambient Assisted Living-Systemen Licht anmachen und Rollos runterlassen kann oder der Kühlschrank warnt, wenn die Tür versehentlich offen gelassen wurde. Waschen im eigenen Badezimmer funktioniert oft wieder, wenn der Waschbeckenunterschrank ausgebaut wird und sich die pflegebedürftige Person davor setzen kann, erzählt Feder.

Damit alles möglichst alltagsgetreu gemäß der eigenen Wohnung ist, können im PÜZ Türrahmen und Durchgänge verkleinert werden. Dann wird ausprobiert: Welcher Rollator passt noch durch? Auch andere Barrieren wurden absichtlich eingebaut, etwa Türschwellen und eine kleine Steigerung im Außengelände. "Im Krankenhaus oder der Reha-Klinik sind die Gänge gefühlt so breit wie ein Fußballfeld und wenn die Menschen dann nach Hause kommen, kommt der Schock", erzählt Feder. Im PÜZ können sie den Übergang proben. Zwei bis drei Wochen bleiben die meisten Gäste. Pro Nacht zahlen sie 50 Euro Eigenanteil.

Die PÜZ-Mitarbeiterinnen helfen auch, einen ambulanten Pflegedienst zu finden und machen auf die Möglichkeit für Tages- und Kurzzeitpflege aufmerksam. Bei der Tagespflege wird die pflegebedürftige Person tagsüber in einer Einrichtung versorgt und unterhalten. Abends und nachts ist sie zu Hause. Eine Kurzzeitpflege ist eine stationäre Pflege für einige Tage oder Wochen, zum Beispiel wenn die Angehörigen in den Urlaub wollen. Hilfe gibt es auch in Form von zweistündigen Pflegeschulungen zu Hause, bezahlt von den Pflegeversicherungen. In einigen Städte ermöglichen zudem ehrenamtliche Besuchsdienste Angehörigen Auszeiten.

"Es gibt Hilfen, aber sie werden oft nicht in Anspruch genommen", sagt Christa Büker, Pflegewissenschaftsprofessorin an der Universität Bielefeld. Die Gründe seien vielfältig: Oft wüssten Angehörige nicht, dass es die Hilfen gibt. Manchmal hätten die Pflegebedürftigen Skepsis. Andere Betroffene bekämen aufgrund des Personalmangels keinen Pflegedienst oder -platz. "Wir müssen uns daher fragen, ob die Entlastungsangebote die richtigen sind oder wir andere brauchen", so Büker. Die Idee des PÜZ findet sie daher "sehr, sehr gut".

Obwohl das PÜZ seit seiner Eröffnung 2019 vielfach von Politik und Pflegeexperten gelobt wurde, gilt es in der Form als deutschlandweit einmalig. Selbst am Ort ist es noch relativ unbekannt. Gerade mal 40 Gäste waren bisher da. Gedacht war das Zentrum eigentlich für Menschen aus der Region Rhön-Grabfeld, doch die Initiatorinnen sind offen für Anfragen aus anderen Regionen. Leiterin Feder würde sich wünschen, dass das PÜZ an den Schnittstellen bekannter wird: in Krankenhäusern, bei Hausärzten, bei Pflegediensten.

Währenddessen plant sie bereits ein Anschlussprojekt: Urlaub mit pflegebedürftigen Menschen. Doris Linzert und Partner Rudi Pschyk freuen sich, dass sie überhaupt aus dem Bett gekommen ist. Vielleicht schaffen sie mit technischer Hilfe bald die 500 Meter zum nächsten Supermarkt, gemeinsam. Schon beim Gedanken daran leuchten die Augen der Senioren.

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