Süddeutsche Zeitung

Baustellen:Ein Hoch auf den Schienenersatzverkehr

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Ersatzverkehr ist das Grauen jedes Pendlers. Stundenlange Umwege, ungenaue Fahrpläne, überfüllte Busse. Dabei kann der SEV auch eine Wohltat sein.

Kolumne von Maximilian Gerl

Von A nach B zu kommen, scheint derzeit eine Herausforderung zu sein. Bayern ist von Baustellen- und Umleitungsschildern so übersät, dass es Menschen geben soll, die von jeder Reise absehen, weil sich die Mühsal des Weges nicht rentiert. Von den Baustellenumleitungen besonders betroffen sind Bahnfahrer, und wo eben jene Bahnfahrer das Wort "Schienenersatzverkehr (SEV)" im Fahrplan lesen, treibt es ihnen den Schweiß auf die Stirn. Kein Wunder beim Gedanken, in Bullenhitze ewig auf einen Bus zu warten und dann dreimal so lange damit übers Land zu schaukeln. Viele werden deshalb nicht glauben, dass der SEV auch eine Wohltat sein kann.

Ein Beispiel. Wer mit der Bahn von München nach Memmingen will, muss derzeit ab Buchloe die restlichen Kilometer per Bus zurücklegen. Das schreckt ab, jedenfalls ist der Zug an jenem Morgen nur halb voll. Wer die Fahrt trotzdem wagt, fügt sich dem Schicksal, bald das Abteil gegen einen Bus zu tauschen, der vielleicht niemals kommt.

Nur zwei junge Damen sind guter Dinge. Sie nutzen die Gelegenheit zum lautstarken Austausch philosophischen Gedankenguts. Zugegeben: Ihrem Ritt, einem Potpourri menschlicher Dramen, ist bisweilen schwer zu folgen. Doch wer sich Mühe gibt, lernt etwas über den Umgang mit fremden Kulturen ("In Vietnam war das Essen so scharf, ich hatte Bauchschmerzen"); über unternehmerisch geplanten Verschleiß anhand kaputter Schuhe ("Ich bin viel damit gelaufen, aber nicht so viel"); über die Schattenseiten sozialer Bindungen ("Sie ist schon nett, aber mit ihr kannst du nicht wegfahren"). Richtig hirnwindend wird es bei Selbstanalysen: "Mit mir kann man nicht streiten, weil ich sage immer meine Meinung." Das Pärchen ein paar Sitze weiter ist da bereits in einen ohnmachtähnlichen Zustand gesunken.

Wie ganz anders der SEV! In Buchloe steht der Bus pünktlich bereit. Der Fahrer ist entspannt, das Klima kühl und dunkel. Mitreisende gibt es kaum, der Abschreckung sei Dank. Es ist still, nur hinten quietscht eine Abdeckung leise im Rhythmus der Straße. Vor dem Fenster zieht bei Tempo 80 der Mais vorbei. Entschleunigen. Entspannen. Einatmen. Ausatmen. Ankunft in Memmingen: fünf Minuten früher als geplant. Ach, herrschte doch immer Schienenersatzverkehr.

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Quelle:
SZ vom 03.08.2018
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