Süddeutsche Zeitung

Angriff in Neu-Ulm:Der seltsame Fall des Khaled el-Masri

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Was ist das Motiv für den Angriff auf Neu-Ulms Oberbürgermeister? Die Ermittler rätseln. Der Täter schweigt.

Stefan Mayr

Längst gilt der Lebenslauf des Khaled El-Masri als eine schicksalhafte wie rätselhafte Geschichte, die etliche Gerichte sowie Medien in aller Welt beschäftigt. Nun hat der 46-jährige Deutsch-Libanese am Freitag mit seinem Faustangriff auf den Neu-Ulmer Oberbürgermeister Gerold Noerenberg in dessen Büro ein weiteres Kapitel aufgeschlagen, das zahlreiche Fragen aufwirft.

Warum attackierte das nachweislich traumatisierte Entführungsopfer, das 2004 von CIA-Agenten in Afghanistan gefoltert wurde, ausgerechnet Neu-Ulms Rathauschef, obwohl dieser nichts mit El-Masris Wohnort Senden und wohl noch weniger mit dem US-Geheimdienst zu tun hat? Und warum wurde der vorbestrafte El-Masri im August aus dem Bezirkskrankenhaus Günzburg entlassen, obwohl er zuvor andere Menschen bedroht hatte?

Nur Erklärungsversuche

Die Entlassung aus der Psychiatrie kann die Memminger Oberstaatsanwältin Renate Thanner begründen, zum Motiv der Attacke gibt es allenfalls Erklärungsversuche.

"Man kann nicht jeden Menschen, von dem man glaubt, dass er gefährlich werden könnte, vorsorglich wegsperren", sagt Oberstaatsanwältin Thanner, "so sind nun mal die Gesetze in einem Rechtsstaat, und das ist auch gut so." Nach Thanners Angaben hat El-Masri im August einen Brief an Gerold Noerenberg geschrieben. Weil dieser "wirren Inhalt" gehabt habe und weil El-Masri außerdem Nachbarn bei einem Streit um lärmende Kinder mit dem Tod gedroht habe, wurde er von der Polizei in das Bezirkskrankenhaus Günzburg eingewiesen.

Die dortigen Ärzte untersuchten El-Masri eingehend - und ließen ihn nach 24 Stunden wieder nach Hause. "Eine Unterbringung eines Menschen gegen seinen Willen geht nur unter zwei Bedingungen", sagt Renate Thanner, "erstens muss eine Gefahr für sich oder andere bestehen, zweitens muss eine psychiatrische Erkrankung vorliegen." Laut Thanner sahen die Ärzte durchaus ein Gefahrenpotential, konnten aber keine Krankheit feststellen. "Und damit mussten sie ihn entlassen", so die Ermittlerin. Und das Trauma, das El-Masri von den Folterungen davontrug, "hat offenbar nicht den Grad einer Erkrankung".

Schweigen zu den Motiven

Am Freitagvormittag war El-Masri mit drei seiner sechs Kinder in das Neu-Ulmer Rathaus eingedrungen und hatte dort mit Fäusten auf OB Noerenberg eingeschlagen und einen Stuhl nach ihm geworfen. Danach ging er zum Freitagsgebet in die Moschee, nach dem Gottesdienst wurde er festgenommen.

El-Masri räumte den Angriff ein, schweigt aber zu seinen Motiven. Zwar liegt der Zusammenhang mit dem Brief an Noerenberg nahe, doch die wahre Ursache liegt wohl in El-Masris Vergangenheit. "Die Erinnerung an Folter bleibt im Kopf gespeichert und es wird immer Erinnerungsattacken geben", sagt die Psychologin Gerlinde Dötsch vom Behandlungszentrum für Folteropfer in Ulm. "Wenn man damit nicht umgehen kann, können Aggressionen hochkommen." Der Körper schütte dann Stresshormone aus, "dabei entsteht unsinnige Energie, und wenn man die nicht kanalisieren kann, kann es zur Explosion kommen." El-Masri ließ sich einst von Dötsch behandeln, wechselte aber 2007 den Therapeuten.

Haft auf Bewährung

Im Dezember 2007 wurde El-Masri wegen gefährlicher Körperverletzung und Brandstiftung zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Diese wurde auf Bewährung ausgesetzt - unter der Bedingung, dass El-Masri seine Psychotherapie fortsetzt. Dies hat er auch bis zuletzt gemacht. Das heißt aber auch: El-Masris Trauma ist noch nicht geheilt. Dazu kommt, dass er sich nach wie vor ungerecht behandelt fühlt: Vor dem Verwaltungsgericht Köln ist eine Klage El-Masris gegen das Justizministerium anhängig. Darin fordert er den Bund auf, in den USA die Auslieferung jener CIA-Agenten zu beantragen, gegen die die Staatsanwaltschaft München internationale Haftbefehle erlassen hat.

Neu-Ulms Oberbürgermeister Noerenberg, der für das friedliche Zusammenleben von Muslimen und Christen eintritt, erlitt bei der Attacke eine blutende Kopfverletzung und musste behandelt werden. Er war bis Montag krank geschrieben, am Dienstag will er seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen und vor der Presse über den Vorfall berichten.

Das Jugendamt des Landkreises Neu-Ulm will unterdessen klären, was mit El-Masris sechs Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren geschehen wird. Die Familie bekommt bereits seit zwei Jahren sozialpädagogische Hilfe durch zwei Familienhelferinnen. "Die Frage, ob die Kinder weggenommen werden sollten, stellt sich uns nicht", sagt Jugendamtsleiter Tilman Lassernig. Die schulpflichtigen Kinder besuchen in Senden Regelschulen. "Das sind ganz normale, unauffällige Kinder", betont Lassernig.

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Quelle:
SZ vom 15.9.2009
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