Süddeutsche Zeitung

Sicherheit auf Landstraßen:Gefährliche Kreuz-Wege

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Von Christof Vieweg

War es ein Audi, oder ein Opel? Oder ein BMW? Die Frontpartie des Autos, das Mitte Juli auf der B 75 nahe der norddeutschen Stadt Sottrum verunglückte war so stark demoliert, dass man auf den ersten Blick weder Typ noch Marke erkennen konnte. Kein Wunder: Der 48-jährige Fahrer hatte mit hohem Tempo überholt und war dabei frontal mit dem Gegenverkehr zusammengeprallt. Die Bilanz: zwei Tote und eine schwer verletzte Beifahrerin.

Sottrum ist überall. "Landstraßen sind schön, aber auch lebensgefährlich", skizziert der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) die Situation und warnt schon seit Langem vor den Unfallrisiken, die auf den Gemeinde-, Kreis-, Land- und Bundesstraßen lauern. Geändert hat sich aber bisher nichts: In mehr als 92 000 schweren Kollisionen, die die Polizei letztes Jahr außerorts (ohne Autobahnen) registrierte, wurden 2019 Menschen getötet und etwa 105 000 verletzt. Damit fällt die Bilanz genauso ernüchternd aus wie in den Vorjahren: Zwei Drittel aller Verkehrstoten Deutschlands sind Opfer von Landstraßenunfällen.

Viele Jahre lang hatte man die Ursachen dieser Unfälle nur bei den Autofahrern gesucht. Zu schnell, zu riskant seien die unterwegs. Doch das ist offenbar nur die halbe Wahrheit. Inzwischen stellen Unfallforscher fest, dass auch viele Straßen Problemfälle sind. Ihr baulicher Zustand, ihre Trassenführung und ihre Sicherheitsausstattung sind oft so mangelhaft, dass die Strecken für viele Kollisionen mitverantwortlich sind und die Unfallfolgen zusätzlich verschlimmern. "Die Bewertung der deutschen Bundesstraßen fällt gegenüber vergleichbaren Landstraßen im Ausland schlecht aus", urteilt Christoph Hecht, Verkehrsexperte beim ADAC, nach mehrjährigen Testfahrten über die Bundesstraßen in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen.

Nur wenige sichere Straßen

Das Ziel dieser Aktion, bei der die Tester insgesamt 8420 Kilometer abspulten, war die Bewertung der Strecken nach einem ähnlichen Schema wie beim EuroNCAP-Crashtest für Neuwagen: Straßen mit geringem baulichem Sicherheitsrisiko wurden auf einer Landkarte grün markiert und erhielten vier Sterne, für hohes Risiko vergab man hingegen nur einen Stern und einen schwarzen Karteneintrag.

Die grünen, sprich: Sichere Straßen muss man auf der ADAC-Karte allerdings lange suchen. Nur zwölf Prozent aller Strecken erhielten die Bestnote. Unter den zweispurigen Strecken entsprechen sogar nur vier Prozent den höchsten Sicherheitsstandards. Stattdessen dominieren in der ADAC-Bewertung die roten Zwei-Sterne-Strecken (62 Prozent), auf denen ein "hohes bis mittleres Unfallrisiko" besteht. 13 Prozent der Straßen erhielten die schlechteste Bewertung. Ihr baulicher Zustand stellt ein hohes Unfallrisiko dar.

"In der Gesamtschau schneidet Baden-Württemberg aufgrund des höheren Anteils vierspuriger Bundesstraßen etwas besser ab als die anderen Bundesländer", lautet das Fazit von Straßentester Hecht. Diese autobahnähnlichen Strecken haben in Baden-Württemberg eine Länge von insgesamt 751 Kilometern, in Hessen sind es 406, in Bayern 275 und in Thüringen 53 Kilometer. Rheinland-Pfalz hat keine Bundessstraßen dieser Art.

Die ADAC-Tester kritisieren vor allem die schmalen Fahrbahnen vieler zweispuriger Bundesstraßen, die mit nur 3,25 bis 3,50 Meter im internationalen Vergleich nicht Schritt halten könnten. Deshalb wird es manchmal gefährlich eng, zumal die Autos in den letzten Jahren immer breiter wurden. Zum Vergleich: Ein Omnibus ist heute inklusive Außenspiegel bis zu 2,95 Meter breit, so dass es buchstäblich nur um Haaresbreite geht, wenn sich zwei solcher Giganten begegnen. Hinzu kommt laut ADAC, dass es an den Bundesstraßen nur selten befestigte Seitenstreifen gibt, die im Notfall als Ausweichzonen genutzt werden können.

Auch falsch berechnete Kurven mit zu kleinen Radien, Kuppen und andere Planungsfehler sind nach Ansicht der Fachleute für viele Unfälle mitverantwortlich. Die Regeln für sicheren Straßenbau seien "seit Jahrzehnten bekannt und in Richtlinien niedergelegt", stellt der ADAC fest und kritisiert, dass trotzdem viele Straßen "gravierende Sicherheitsmängel" aufweisen. Vorbeugende bauliche Verbesserungen würden aus Kostengründen nur selten vorgenommen, "obwohl diese langfristig schwere Unfälle verhindern können".

22 000 tödliche Baumunfälle seit 1995

Über Beispiele "missglückter Straßengestaltung" können auch die Wissenschaftler der Technischen Hochschule Mittelhessen berichten. Sie hatten bei der Überprüfung fast 3200 Sicherheitsmängel festgestellt. Dazu zählten nicht nur unübersichtlich gebaute Kurven, Kreisverkehre oder Kreuzungen, sondern auch die unter Deutschlands Straßenplanern noch immer sehr beliebten Bepflanzungen entlang der Fahrbahnen. Seit Jahrzehnten schon ziehen Unfallforscher gegen das Grünzeug zu Felde, fordern baumfreie Seitenräume neben den Landstraßen oder Leitplanken als Aufprallschutz. Doch ihre Argumente finden kaum Beachtung. Die "Baumunfallstatistik, die erstmals 1995 angelegt wurde, listet seit 1995 insgesamt rund 22 000 tödlich verunglückte Fahrzeuginsassen und Motorradfahrer auf. Letztes Jahr kamen durch Baumunfälle 516 Menschen ums Leben.

Trotzdem wird weiter gepflanzt. "Es sind nicht nur die dicken Alleebäume, von denen Gefahr ausgeht", erklärt DVR-Sprecher Sven Rademacher. Crashtests hätten gezeigt, dass Auto-Insassen schon beim Frontalaufprall mit 70 km/h auf einen Baum mit nur zehn Zentimetern Stammdurchmesser kaum Überlebenschancen haben. Zwar könnten Schutzplanken vor den Bäumen die Unfallschwere deutlich vermindern, doch für eine Nachrüstung der Strecken fehlt den Straßenbauern das Geld.

Tempolimit in der Diskussion

Deshalb hilft nach Ansicht von Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherungen (UDV), nur noch eines: "In Alleen sollte die zulässige Höchstgeschwindigkeit maximal 80 km/h betragen." So könnten zwischen 50 und 80 Prozent aller Baumunfälle verhindert werden. Aus Sicht vieler Verkehrsexperten ist es ohnehin höchste Zeit, über das Tempo auf den Landstraßen nachzudenken. "Der weitaus größte Teil des Landstraßennetzes ist nicht für Tempo 100 geeignet. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen", sagt Arnold Plickert, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei. Die Forderung der Experten des diesjährigen Verkehrsgerichtstags erscheint deshalb logisch: Statt 100 km/h soll eine generelle "Regelgeschwindigkeit" von 80 km/h eingeführt werden. Auf gut ausgebauten Strecken könne man von dieser Grundregel abweichen und das Pkw-Tempolimit auf 100 km/h anheben, schlagen die Juristen und Unfallexperten vor.

Auch Lastwagen sollten in Zukunft 80 km/h schnell fahren, um einen besseren Verkehrsfluss zu ermöglichen. Bisher sind für Brummis mit mehr als 7,5 Tonnen Gesamtgewicht auf Landstraßen nur höchstens 60 km/h erlaubt - eine Vorschrift, die noch aus den 1940er-Jahren stammt. "Gerade die hohe Lkw-Dichte auf Landstraßen führt zu deutlichen Geschwindigkeitsdifferenzen und dem Wunsch der Pkw- und Motorradfahrer, schnell zu überholen", sagt DEKRA-Vorstand Clemens Klinke und nennt neben der Fehleinschätzung von Abstand und Geschwindigkeit auch Ungeduld als Ursache vieler Unfälle. Im Klartext: Wer als Pkw-Fahrer mit 60 km/h einem Laster folgen muss, sucht ständig nach Überholmöglichkeiten und ist dabei offenbar sehr risikobereit. Laut Unfallforschung ereignet sich jeder zweite Unfall, weil Autofahrer trotz Gegenverkehr oder unklarer Verkehrslage überholen.

DVR, Polizei und viele andere in Sicherheitsfragen kompetente Gremien schließen sich inzwischen der 80-km/h-Empfehlung für schmale, unsichere Landstraßen an. Nur einer fehlt noch in diesem Bündnis: Der Bundesverkehrsminister. Alexander Dobrindt (CSU) erklärte bisher nur knapp, ein geringeres Landstraßen-Tempolimit sei kein "Allheilmittel".

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Quelle:
SZ vom 14.08.2015
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