Süddeutsche Zeitung

Leinwand statt Windschutzscheibe:Die Welt ist eine Scheibe

Lesezeit: 4 min

Nur als Windschutz viel zu schade: Die Frontscheibe wird zur Projektionsfläche einer digitalisierten Welt. Sie kann im Auto Küchenchefs zum Sprechen bringen, einen Jazz-Club spielen lassen und wird zur Wegbereiterin des autonomen Fahrens.

Von Joachim Becker

Im Fernsehen ist die Abseitsfrage ganz schnell beantwortet: Der Computer zieht einfach eine farbige Linie durch das Kamerabild. Eine derart digital erweiterte Realität soll künftig auch den Fahrer über wechselnde Fahrspuren lotsen. Augmented Reality heißt das Computerspiel, das die Windschutzscheibe in einen transparenten Bildschirm verwandelt. Information über den Straßenverlauf, Tankstellen oder Hindernisse können ebenso in das Sichtfeld projiziert werden wie anklickbare Symbole über öffentliche Gebäude oder Sehenswürdigkeiten. Im Auto muss die Überlagerung der Wirklichkeit allerdings in Echtzeit geschehen: Intuitiv sollen die Lenkbewegungen des Fahrers den dreidimensionalen Navigationspfeilen durch den Großstadtdschungel folgen.

Auf Auto- und Computermessen ist die schöne neue Animationswelt ein beliebter Blickfang. Daimler präsentierte auf der Consumer Electronics Show 2012 all das, was sich die Designer unter einem "revolutionären Kundenerlebnis" vorstellen. Die Stuttgarter hatten ein futuristisches Fahrzeuginterieur mit allem vollgepackt, was die moderne Projektions- und Displaytechnologie hergibt.

Blasse Geister auf der transparenten Mattscheibe

Unter dem Kürzel DICE (engl.: Würfel oder "Dynamic & Intuitive Control Experience") mutierte die Armaturentafel zu einem Riesenmonitor, der selbst die beiden Bildschirme in der neuen Mercedes S-Klasse überragt. Darüber hinaus ließ sich die Frontscheibe fast beliebig mit Augmented Reality illuminieren: Die Gesprächspartner in Videotelefonaten erschienen als blasse Geister auf der transparenten Mattscheibe. Im Vorbeifahren konnte man auch tief in die Töpfe und tagesaktuellen Menüs der Restaurants schauen. Ein Handzeichen genügt, um Küchenchefs zum Sprechen zu bringen oder die Musik, die in einem Jazz-Club gespielt wird, per Livestream ins Auto zu holen.

Scheinbar wird der digitale Lifestyle zum unverzichtbaren Bestandteil des automobilen Lebens. Laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey erwarten knapp 70 Prozent der unter 40-Jährigen, dass ihnen das Auto in den kommenden zehn Jahren einen sicheren Zugang zu ihren persönlichen Daten und Netzwerken ermöglicht. Die Kunden wollen noch mehr Mobilität und Unabhängigkeit - was die Industrie von einem neuen Geschäftsmodell träumen lässt: "Weltweit verbringt der durchschnittliche Autofahrer, also Fahrer oder Beifahrer, heute etwa 50 Minuten des Tages im Auto. Das ist ein enormes wirtschaftliches Potenzial", sagt McKinsey-Studienleiter Andreas Cornet. Jede Minute dieser Zeit ist bares Geld für denjenigen, der orts- oder kontextabhängige Dienste anbietet. Es geht um einen Milliardenmarkt. Entsprechend erpicht sind Automobilhersteller sowie Telekom- und Internetfirmen darauf, das Auto mit einem universellen Datenstrom zu fluten.

"So wie ein Smartphone weit mehr sein kann als nur ein Kommunikationsinstrument, so kann auch ein smartes Auto mehr sein als nur ein Transportmittel. Gerade an den Schnittstellen von Kommunikation und Mobilität schlummern riesige Innovationspotenziale. Die wollen wir heben", kündigte Daimler-Chef Dieter Zetsche auf der CES 2012 an. Noch verhindern die Zulassungsbehörden hierzulande, dass das Auto zum Beiwerk der Unterhaltungselektronik degradiert wird.

Vom kommenden Jahr an ist Video-Streaming möglich

Fakt ist allerdings, dass die Datenübertragung auch im Auto auf LTE-Tempo beschleunigt: Durch Übertragungsgeschwindigkeiten wie im heimischen Festnetz wird Video-Streaming nächstes Jahr im Auto möglich sein. Je selbständiger der fahrbare Untersatz Gas gibt, bremst und lenkt, desto mehr Aufmerksamkeit bleibt hinter dem Steuer für das digitale Flimmern und Rauschen. Das (teil-)autonome Fahren setzt sogar eine computeranimierte Wirklichkeit voraus: Nur wenn der Fahrer ständig nachvollziehen kann, was die Fahrzeugsensorik erkennt, vermag er seiner gesetzlich vorgeschriebenen Aufsichts- und Kontrollpflicht nachzukommen.

Auf der IAA in Frankfurt hat Mercedes gerade die erste Fahrt ohne Fahrer durch einen dicht besiedelten Ballungsraum in Deutschland gefeiert. Doch nicht alles, was auf gut 100 Kilometer technisch machbar ist, erscheint für den Kunden im Alltag auch sinnvoll. Während der autonomen Bertha-Benz-Gedächtnistour von Mannheim nach Pforzheim markierte die Augmented Reality sowohl vorausfahrende Autos als auch querende Fußgänger und Bordsteinkanten.

Die grellbunte Datenfülle löst beim gewöhnlichen Betrachter jedoch nach einiger Zeit Konfusion und Kopfschmerz aus. Vor allem dann, wenn er versucht, das animierte Videobild in der Mittelkonsole mit dem realen Geschehen hinter der Frontscheibe abzugleichen. Da Mercedes erst vom nächsten Jahr an über Head-up-Displays verfügen wird, wirkt auch die Wegführung in einem anderen Testfahrzeug verwirrend: Der Strom von Richtungspfeilen schlingert von einer Straßenseite zur andern, weil die Satellitennavigation und aktuelle Straßenkarten noch zu ungenau sind, um den Fahrweg punktgenau mit Zusatzinformationen zu überlagern.

"Das ist eine der Schlussfolgerungen aus den Tests mit Augmented Reality und dem autonomen Fahren: Wir müssen das Vertrauen des Fahrers gewinnen", erklärt Ralf Lamberti, der den Bereich Telematik in der Daimler Forschung und Entwicklung leitet: "Dafür brauchen wir hochgenaue geometrische Informationen in 3-D-Qualität, um Zusatzinformationen kontaktanalog, also extrem präzise in das Sichtfeld des Fahrers zu projizieren." Da hilft es wenig, dass einige Kunden die animierte Realität bereits von der Rückfahrkamera kennen: Beim Einparken in Schrittgeschwindigkeit lenkt die verzerrte Froschaugenperspektive nicht allzu sehr von den digitalen Begrenzungslinien ab.

Auch die Projektionsbrille Google Glass taugt nicht als Vorbild: Bei den ersten Versuchsträgern werden zusätzliche Daten lediglich richtungsanalog, also im ungefähren Bereich des Geschehens, angezeigt. Während des Fahrens sind die Anforderungen wesentlich höher: Die Objekte müssen nicht nur an der richtigen Position, sondern auch in Größe und Perspektive korrekt visualisiert werden - und zwar während der ganzen Zeit, in der sich der Fahrer an ihnen vorüberbewegt. Studien belegen, dass der Mensch ablehnend auf bewegte 3-D-Ansichten reagiert, die der natürlichen räumlichen Wahrnehmung widersprechen.

Neue Beamer-Technik verdoppelt das Projektionsfenster

Wie futuristisch das DICE-Szenario von Daimler ist, zeigt der heutige Entwicklungsstand von Head-up-Displays: Mittlerweile können die lichtstarken Anzeigen auf Augenhöhe fast alle Formen und Farben im Postkartenformat darstellen. Die Projektionen scheinen über der Motorhaube zu schweben, weshalb sie ohne Blickabwendung von der Straße erkannt werden. Für 2016 plant der Systemzulieferer Continental den Serienstart der nächsten Technologiegeneration: Eine neue Beamer-Technik wird das Projektionsfenster verdoppeln. Künftig soll die animierte Wirklichkeit knapp acht Meter vor dem Fahrer erscheinen.

Dann steht für die Augmented Reality ein Rechteck von 130 mal 65 Zentimeter zur Verfügung: Genug, um Richtungspfeile bis zu 75 Meter voraus auf die Straße zu legen. Beim Abbiegen oder Überholen kommen die Zusatzzeichen aber schnell an ihre räumlichen Grenzen. Der Aufwand für den digitalen Tunnelblick ist groß: Statt bisher vier hat die Highend-Version 13 Liter Bauraumbedarf - keine Kleinigkeit im dicht bepackten Cockpit. Außerdem muss eine Innenraumkamera den Blickpunkt des Fahrers im Auge behalten, sonst funktioniert die 3-D-Illusion nicht.

Bis Laserprojektoren die gesamte Frontscheibe bespielen und dem Fahrer das Gefühl von voller Kontrolle vermitteln können, werden noch einige Jahre vergehen. "Es wäre gefährlich zu glauben, dass die Branche das Thema voll automatisiertes Fahren morgen realisieren kann", warnt Helmut Matschi, Leiter des Interieurbereichs von Continental, "da gibt es im Detail noch viele Fragen zu lösen."

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Quelle:
SZ vom 12.10.2013
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