Süddeutsche Zeitung

Fahrradkurse:Hilfe für Erwachsene, die spät in Tritt kommen

Lesezeit: 3 min

Nicht Radfahren zu können, ist vielen Erwachsenen peinlich. Um auf dieses Stück Lebensqualität nicht weiter verzichten zu müssen, nehmen immer mehr Menschen an speziellen Kursen teil.

Reportage von Steve Przybilla

Dieser verfluchte Lenker! Mal driftet er nach links, dann wieder nach rechts. Ihn wirklich gerade zu halten, ist alles andere als einfach. "Versuch's erst gar nicht", ruft Bernhard Dorfmann seiner Schülerin zu. "Du lernst nicht von mir. Du lernst vom Fahrrad." Er redet von der Balance. Kein Radfahrer lenkt die ganze Zeit stur geradeaus. Wer auf dem Sattel sitzt, korrigiert sich immer wieder selbst, ganz intuitiv, ohne es zu merken. Aber auch nur dann, wenn man es als Kind so gelernt hat.

Die Schülerinnen und Schüler, denen Dorfmann das Radfahren beibringt, sind schon etwas älter. Der 44-jährige Wiener, der hauptberuflich als Fahrradkurier arbeitet, hat 2012 die "City Cycling School" gegründet. Er richtet sich an Erwachsene, die nicht länger Ausreden erfinden wollen, wenn ihre Freunde eine Radtour planen. Erwachsene, denen ein Stück Alltag, wenn nicht sogar Lebensqualität fehlt. Dass es diese Zielgruppe durchaus gibt, beweist die Nachfrage nach Dorfmanns Kursen. Offen sprechen will aber kaum jemand darüber: Dass Erwachsene nicht radeln können, ist ein Tabu.

Erste Übungen auf dem Tretroller

Marion Dworak ist eine von ihnen. Die 41-jährige Wienerin weiß selbst nicht genau, warum sie bis heute nicht Fahrrad fahren kann. "Es gab immer Fahrräder in meiner Familie", erzählt sie, "aber ich verliere sehr schnell die Geduld. Vielleicht haben meine Eltern nicht stark genug eingefordert, dass ich übe." Immerhin hat sie sich überwunden, die erste Stunde in Dorfmanns Kurs zu besuchen. Da sitzen die Schüler noch nicht auf dem Fahrrad. Ein Tretroller mit dicken Reifen soll die ersten Fahrversuche erleichtern. "Er verfügt über dieselben physikalischen Eigenschaften wie ein Fahrrad", sagt Dorfmann, "aber ohne Sattel geht es am Anfang viel leichter."

Während an der Donau mehrere Mountainbiker freihändig vorbeirauschen, fährt Dworak einer Kreidelinie nach. Es folgen Slalom-, Aufstiegs-, Tret- und Lenkübungen, bei denen die Frau allmählich ihr Gleichgewicht findet. "Alles ist genau aufeinander aufgebaut", versichert Dorfmann, der sich in Hamburg zum Fahrradlehrer hat ausbilden lassen.

Noch keine schlimmen Stürze

Das Konzept ("Moveo ergo sum") basiert auf dem Lernen in kleinen Schritten, damit niemand überfordert wird und dadurch die Motivation verliert. Schlimme Stürze seien im Kurs folglich noch nicht passiert, versichert der Fahrradlehrer. Es komme höchstens mal vor, dass er zu Pflaster und Wundspray greifen müsse.

Wie viele Erwachsene tatsächlich nicht radeln können, darüber gehen die Meinungen (und Zahlen) auseinander. "97 Prozent der Bevölkerung können Rad fahren", heißt es in der Studie "Fahrradfahren in Deutschland" (2016), die der Radhersteller Rose Bikes in Auftrag gegeben hat. Bei einer Bevölkerung von 80 Millionen wären das etwa 2,4 Millionen Menschen, wobei man Kleinkinder und Greise natürlich abziehen müsste. Der Fahrradclub ADFC geht für Deutschland von 100 000 bis 200 000 Personen aus.

Noch interessanter ist die Frage nach dem Warum. Schließlich lernen Kinder in Deutschland schon in der Grundschule den sicheren Umgang mit dem Rad, und zwar in jedem Bundesland. In der 4. Klasse erfolgt eine Prüfung, nach der sich Kinder problemlos mit ihrem Fahrrad im Straßenverkehr zurechtfinden sollten. Soweit die Theorie. In der Praxis ist die Gruppe der Nicht-Radler sehr gemischt. Der ADFC spricht zum einen von der Nachkriegsgeneration, die während des Wiederaufbaus schlicht keine Zeit für "Luxus-Hobbys" gehabt habe. Anders ist es bei vielen Flüchtlingen. Sie stammen oft aus Kulturkreisen, in denen Radfahren entweder unüblich oder komplett unbekannt ist.

Vor allem Frauen sind betroffen, wie eine Untersuchung des Instituts für höhere Studien in Wien nahelegt. Beim Projekt "Migrad" wurden 45 Frauen aus Nicht-EU-Ländern nach ihren Zweirad-Erfahrungen befragt. Zwei Drittel gaben an, es "gar nicht" oder "nie richtig" gelernt zu haben. Obwohl die Studie nicht repräsentativ ist, deckt sie sich mit den Erfahrungen vieler Fahrradlehrer. Auch sie haben hauptsächlich Frauen in ihren Kursen.

Fünf Einzelstunden für 200 Euro

Folgerichtig wachsen auch die Angebote, die sich an diese Zielgruppe richten. So bietet die Radlobby Wien bereits seit 2012 entsprechende Kurse an, während der ADFC in Deutschland 20 Radfahrschulen betreibt, die zusammen etwa 70 Gruppenkurse pro Jahr anbieten. Andere Anbieter richten sich speziell an Frauen mit Migrationshintergrund, zum Beispiel in München, Hamburg oder Dresden. In den Niederlanden sind solche Projekte schon seit 20 Jahren gang und gäbe.

Die fünf Einzelstunden in der "Cycling School" kosten insgesamt 200 Euro. Generell variieren die Preise je nach Anbieter stark - von einfachen kostenlosen Trainings bis hin zum intensiven Einzelcoaching. "Mehr Schwung!", ruft Bernhard Dorfmann, während Daniela in großen Bahnen um ihn herumschlängelt. Auf- und Absteigen ist kein Problem mehr, auch das eigentliche Fahren klappt gut. In der letzten Sitzung geht es nun um die komplizierteren Fragen: Wie und wo finde ich ein bezahlbares Fahrrad? Welches Modell ist am besten geeignet? Wo sind die Ventile, wo die Zahnräder?

"Wenn du ein komisches Geräusch hörst, stimmt etwas mit der Mechanik nicht", erklärt Dorfmann. Was sie dann machen solle, fragt Daniela. Der Lehrer muss schmunzeln: "Da hilft dir entweder ein Mechaniker. Oder du machst einen Kurs - auf Youtube."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3097960
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 30.07.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.