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Fahrradkleidung:Richtig radeln lässt sich nur in einer guten Hose

Lesezeit: 4 Min.

Radfahrer haben ein besonderes Verhältnis zu ihrem Gesäß. Damit es ihm gutgeht, nehmen sie gar den Spott über gepolsterte Radhosen in Kauf. Aber muss es ein Modell für 360 Euro sein?

Von Sebastian Herrmann

Zu ihrem Gesäß pflegen Fahrradfahrer eine besondere Beziehung. "Radfahren kommt dem Flug der Vögel am nächsten", hat der amerikanische Naturforscher Louis Halle zwar einmal gesagt; doch es ist davon auszugehen, dass Schwalben, Tauben, Falken und andere Vögel ohne Schmerzen im Hintern durch die Lüfte ziehen. Der Radfahrer hingegen fliegt mit seiner edlen Maschine in guten Momenten schier schwerelos über den Asphalt, doch sein großer Gesäßmuskel bleibt dabei über den Sattel im leidvollen Dasein als erdgebundenes Geschöpf verhaftet. Seit also der Mensch vor 200 Jahren das erste Mal auf ein Fahrrad gestiegen ist, plagen ihn Schmerzen im Hintern - und seitdem gebiert er Ideen, um diese abzumildern.

Wer heute in eine Radhose mit gepolstertem Gesäß schlüpft, muss gelegentlich Spott von Zivilisten ertragen. Doch die schlimmsten körperlichen Schmerzen bleiben ihm dank der Synthetik-Textilien erspart. Das verdeutlichen Leidensberichte aus der Frühphase des Radsports. So fasste der Autor William C. Anderson einmal die Torturen zusammen, die Fahrer der einst enorm populären Sechstagerennen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ertrugen. Die Sportler saßen damals teils auf hölzernen Sätteln und strampelten sechs Tage und Nächte am Stück. Die Schmerzen müssen höllisch gewesen sein und sie trieben, so schreibt Anderson, die Kreativität der Fahrer an. Die Sportler rieben ihre Hintern mit Vaseline ein, mit Kokosöl oder mit Schmierstoffen, die für die Lager ihrer Achsen bestimmt waren. Ein Sechstageveteran, so die Schilderung, habe sich sogar Wackelpudding in die Hose gefüllt, um die Gesäß-Tortur erträglich zu machen. Wer derart demütigende Methoden anwendet, der muss scheußliche Schmerzen erleiden.

Die Sattelfolter der Gegenwart fällt im historischen Vergleich also wesentlich milder aus. Trotzdem ist die Suche nach der perfekten Radhose nicht beendet. Ständig bringen Firmen neue Produkte auf den Markt. Andererseits, was in aller Welt ist so schwer daran, ein ordentliches Polster in eine enge Hose zu nähen, so dass ein Dasein im Sattel dem Flug der Vögel doch ein wenig näher kommt als jetzt schon?

"Es hilft nicht, einfach nur immer dickere Polster in die Hose zu integrieren", sagt Peter Curran, der für den kalifornischen Radhersteller Specialized Bekleidung entwickelt. "Am Ende fühlt sich das an, wie in einer viel zu weichen Couch zu sitzen." Mit einer - mit Verlaub - zu dick gepolsterten Windel geriete ein Radler ins Schwimmen, er würde auf dem Sattel hin und her eiern, das Polster würde zu stark an seiner Haut reiben, zudem würde es durch ein dickes Polster zu warm in der Hose werden. Eine verschwitzte, feuchte Hose aber trägt sicher nicht dazu bei, Schmerzen zu reduzieren - allenfalls steigert das die Wahrscheinlichkeit, dass sich Hautstellen entzünden.

Nicht zu dünn und nicht zu dick

Das sind im Wesentlichen die Herausforderungen, die Hersteller von Radhosen in den Griff bekommen müssen: Die Polsterung darf nicht zu dick und nicht zu dünn sein; die Hose muss Feuchtigkeit abtransportieren, Reibung reduzieren und irgendwie möglichst gut sitzen. Das klingt leichter als es ist - und vielleicht hilft ein Blick auf den Werdegang der Textilien, um eine gute Radhose besser zu schätzen.

Profi-Radsportler - außer diesen Sattelleidenskünstlern trug einst niemand eine spezielle Gesäßverpackung auf dem Velo - stiegen lange Zeit in Hosen aus Wolle, später auch aus Baumwoll-Acryl-Gemisch. In diese Beinkleider waren Einsätze aus Leder genäht, die eingefettet wurden, um vor Reibung zu schützen. Dass die Hosen eng geschnitten waren, hatte sich früh etabliert. Schlabberige Hosen reiben zu sehr, so dass sie während eines langen Tages im Sattel durch die zigtausendfache Wiederholung der immer wieder gleichen Bewegung die Haut zerschinden können.

Die erste Radhose aus elastischer Synthetikfaser war eine Entwicklung der Schweizer Firma Assos, deren Produkte unter vielen Radsportlern fast kultisch verehrt werden. "Die Hose war ein Abfallprodukt", sagt Roche Maier, Firmenchef und Sohn des Gründers Toni Maier. "Mein Vater war besessen davon, Radkomponenten zu entwickeln." In den 1970er-Jahren konstruierte er den ersten Rahmen aus Carbon, dessen aerodynamische Eigenschaften bei der ETH Zürich im Windkanal getestet wurden. Weil die Baumwollradhosen das Messergebnis unbrauchbar machten, mussten die Testfahrer nackt strampeln - eine kaum alltagstaugliche Lösung. Dann adaptierte Toni Maier die eng anliegenden Ganzkörperanzüge aus damals neuen elastischen Synthetikfasern, die sich gerade im Skisport etablierten - und produzierte am Ende Hosen statt Komponenten. 1978 brachte die Firma die erste Radhose aus elastischer Synthetikfaser auf den Markt.

Die Ledereinsätze verschwanden gegen Ende der 1980er-Jahre, als abermals Assos Synthetikpolster entwickelte. 1998 brachte die Firma jene elastischen Polster auf den Markt, die heute in Variationen vernäht werden. "Das war noch einmal ein enormer Entwicklungssprung", sagt Roche Maier. Seitdem sind es eher Mikro-Schritte, mit denen die Perfektionierung fortschreitet. "Aber für viele spielt die Kleidung eine immer wichtigere Rolle", sagt Maier.

Das Assos-Top-Modell kostet 360 Euro

Der Komponentenfetischismus weitet sich ins Textile aus. Doch ist das ein Grund eine so teure Hose zu kaufen, wie die T. Campionissimo S7, das Assos-Top-Modell, das stolze 360 Euro kostet? Die Hose trägt sich fantastisch und fühlt sich sehr gut an. Aber das gilt eben für andere auch, etwa das Specialized Top-Modell SL Pro Bib Short, das mit 169 Euro deutlich billiger ist. Die Unterschiede, darauf können sich fast alle in der Industrie einigen, sind gering - am Ende findet jeder die Hose, mit der er am besten zurechtkommt.

Wohin die Entwicklung gehen könnte, demonstriert eine kleine, junge Firma aus Albstadt auf der Schwäbischen Alb: Everve verspricht Individualisierung: Kunden können sich und vor allem ihren Hintern vermessen lassen und entsprechend den Daten individuelle Polster für die Hose wählen. "72 Prototypen haben wir entwickelt", sagt Firmengründer Stephan Wolfer. Auch das ist ein Hinweis, dass es eben nicht reicht, nur ein Polster in die eine Hose zu nähen. Das Topmodell der Firma nennt sich ME (190 Euro) und ist ebenfalls eine prima Radhose.

Mit ihrer Kleidung setzen sich Radler dem Spott aus

Die einfache Wahrheit lautet: Radfahren kann weh tun. Zu Beginn schmerzt es mehr, egal welche Hose der Radler trägt, dann entwickelt das Gesäß eine Toleranz - die Schmerzen werden weniger. Doch was ist mit der ästhetischen Herausforderung einer Radhose? Wer die erste Tour mit offenen Blasen am Gesäß erlebt hat, der geht dieses Wagnis ein und wird nie wieder ohne gepolsterten Hintern aufbrechen.

Im Übrigen: Seit Menschen Fahrrad fahren, müssen sie Spott wegen ihrer Kleidung ertragen. Die englische Dichterin Flora Thompson schrieb vor vielen Jahrzehnten: "Radler in ihren soliden Sportanzügen, runden Mützen mit dem Klubemblem waren für die Dörfler Scherzfiguren." Den heftigsten Reaktion waren dabei Frauen ausgesetzt: Als Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Radlerinnen aufbrachen, um die Freiheit auf zwei Rädern zu genießen, mussten sie die damals gesellschaftlich vorgeschriebenen, aber fahrradinkompatiblen Röcke zugunsten von Hosen ablegen. Sie ernteten Reaktionen, die mit dem Begriff wütend unzureichend beschrieben sind. Sie ließen sich nicht beirren, denn sicher wussten die Radlerinnen damals, was auch heute gilt: Richtig radeln lässt sich nur in einer guten Hose.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2017
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