Süddeutsche Zeitung

Wissenschaftshistorikerin:"Die Gesetzlosigkeit des Netzes wird kaltblütig ausgenützt"

Lesezeit: 6 Min.

Lorraine Daston, Direktorin am MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, plädiert für eine Regulierung von Informationen - damit Lügen und Propaganda nicht weiter überhandnehmen.

Interview von David Hesse

SZ: "Postfaktisch" war das Wort des Jahres 2016. Gab es Propaganda nicht schon immer?

Lorraine Daston: Das Phänomen ist alt, ja, hat aber mit dem Aufstieg des Mediums Internet neue Intensität angenommen. Es gab eine ähnliche Phase im Jahrhundert nach der Verbreitung des Buchdrucks. Da war mindestens so viel Desinformation wie Information im Umlauf. Denken Sie an die Flugblätter der Reformation und Gegenreformation. Jede Medienrevolution bringt eine Periode der Anarchie und des Experimentierens. Aber die Wogen werden sich wieder glätten.

Zur Zeit des frühen Buchdrucks herrschte auch Verwirrung darüber, was Fakten sind?

Absolut. Tatsächlich ist die Idee der Fakten und was sie sein sollen eine Errungenschaft der frühen Neuzeit. Und damit meine ich nicht den Anspruch, dass eine Behauptung der direkten Erfahrung standhalten soll, das ist eine uralte Idee, in allen Kulturkreisen verbreitet, sondern die Forderung, dass man gewissenhaft versuchen soll, ein Stück Erfahrung von seiner Interpretation zu lösen.

Nackte Erfahrung - geht das?

In Zeiten, da keiner Quelle mehr vertraut werden konnte, kam die Idee auf, gewisse 'Nuggets' der Erfahrung möglichst ohne Interpretation darzustellen, damit alle über dasselbe sprechen. Das sind Fakten. Sobald ein Nugget für eine politische Sache oder wissenschaftliche Theorie eingespannt wird, verliert er seinen neutralen Charakter. Es ist kein Zufall, dass dies erstmals im 17. Jahrhundert artikuliert wurde, als die Propaganda blühte.

Könnte die heutige Fakten-Anarchie eine Chance für neue Standards sein?

Ja. Wir müssen unsere Ideale bestätigen und vielleicht neu schreiben. Es gibt keinen Grund, weshalb unser Nachdenken über Fakten und Wahrheit im 17. Jahrhundert hätte aufhören sollen. Wir brauchen neue Theorien für die Herausforderungen, die uns neue Medien bescheren.

Ist die Postmoderne Ursache der vielen Zweifel? Manche Gelehrte sagen, es gebe nicht eine Vergangenheit, sondern nur subjektive Erzählungen davon.

Das wäre akademischer Größenwahn. Wir sollten einen Ausweg finden aus der binären Opposition von objektiv/subjektiv - und einen Raum dazwischen auftun. Wenn alles subjektiv sein soll, was nicht von Maschinen gemessen und registriert werden kann, wie eine Ballposition im Fußballspiel, dann haben wir keinen Platz mehr für Urteilsvermögen. Wenn man die wahre Aussage macht, dass jede Aussage über die Vergangenheit eine Erzählung ist, dann heißt das nicht, dass alles bloß erfunden ist. Dazwischen ist ein weiter Raum.

Wie sieht dieser Raum aus?

Wir kennen ihn bereits. Nehmen Sie einen Termin vor Gericht: Wir erwarten von einem Richter, dass er seinen Handlungsrahmen den vorliegenden Beweisen anpasst, aber dennoch ein eigenes Urteil fällt und seine Entscheidung mit einer nachvollziehbaren Erzählung rechtfertigt. Ein Richter ist keine Maschine, und soll keine sein. Wir sollten so ein Konzept der Unparteilichkeit auch jenseits der Gerichte wiederbeleben. Ein Richter ist eine Autorität.

Autoritäten werden rar, Wikipedia ist kein Brockhaus.

Die Frage ist: Wie bilden sich neue Autoritäten heraus? In Europa dauerte das nach der Verbreitung des Buches im 16. Jahrhundert recht lange. Und gewisse Mechanismen der Qualitätskontrolle sahen aus wie Zensur. In Leipzig haben Forscher der Gruppe "Geschichte des Buches" untersucht, wie die Jesuiten im Süden Deutschlands einst Texte kontrollierten. Dabei klangen sie häufig wie heute Wissenschaftler im Gutachter-Verfahren für Fachzeitschriften: Kann die These etwas klarer herausgeschafft werden? Ist das Latein hier korrekt? Die Jesuiten übten öfter hilfreiche Kritik, als dass sie nach Verletzungen der Glaubensdoktrin suchten.

Autoritäten müssen Zensur üben können?

Ein Problem heute ist die gut gemeinte Doktrin des freien Internets. Ich habe viel Verständnis für Parolen wie "Information will frei sein". Doch damit einher geht oft Widerstand gegen jegliche Form von Regulierung. Das ist bedenklich. Es war noch nie der Fall, dass etwas so mächtig, omnipräsent und zunehmend unverzichtbar ist wie das Internet, aber nicht reguliert. Das Internet wird zur Spielwiese derer, die das meiste Geld haben. Sehen Sie sich Einträge umstrittener Personen auf Wikipedia an. Da schreibt jemand einen Text - und dann wird er umgeschrieben und abgeändert von jenen Kräften, die ein starkes ideologisches Interesse sowie Zeit und Geld haben. Am Schluss gewinnt die Kraft mit dem meisten Geld oder der meisten Sturheit. Das ist weder im Interesse der Öffentlichkeit noch der Wahrheit. Es braucht eine Form der Regulierung.

Wer soll tätig werden? Etwa der Staat?

Es wäre sicher besser, wenn die Regulierung international geschähe. Aber die UN können ja nicht einmal das Format der Netzstecker weltweit vereinheitlichen. Die Europäische Union wäre in einer guten Position. Sie hat eine überraschende Vorreiterrolle eingenommen, als es um Big Data und Konsumentenrechte ging. Leider wird jeder Plan zur Regulierung von den Internetideologen bekämpft werden.

Und von allen, die suprastaatlicher Regulierung misstrauen. Das sind viele.

Stimmt. Aber ich sehe keine Alternative. Und die Verschwörungstheorien, dass wir alle von oben herab manipuliert werden, sind doch genau das Ergebnis des unregulierten Internets. Die Gesetzlosigkeit des Netzes wird kaltblütig ausgenützt.

Soll man Gegenstimmen verbieten? Wissen diese nicht manchmal mehr als der Mainstream?

Es gibt Beispiele hierfür. Homosexuelle Aktivisten in Europa und Südafrika waren so gut organisiert, dass sie zeitweilig mehr wussten über HIV als die akademische Welt. Sie brachten entlegene Studien zusammen und regten neue Forschung an. Auch im Bereich der Patientenrechte oder seltenen Krankheiten gibt es das. Doch die meisten Leute haben nicht die Zeit und nicht die Geübtheit im Umgang mit möglicherweise fehlerhaften Quellen. Die Anti-Impf-Bewegung etwa ist gut organisiert, aber meines Erachtens verirrt.

Sie können sie trotzdem nicht wegregulieren.

Nein, und wir dürfen kein Technokratenstaat werden, in dem die Regierung sagt: Macht euch keine Sorgen, wir schauen für euch. Die Öffentlichkeit muss Zugang zu Wissen haben. Doch es fehlt eine systematische Schulung der Öffentlichkeit. Ich selber etwa würde gern wissen: Woran liegt es, wenn etwas im Netz viral wird? Wie kann man ein Mem entschärfen? Solchen Unterricht brauchen wir. Ich bin zuversichtlich, dass die Leute Manipulationen verstehen. So wie sie verstehen, was Werbung ist.

Viele Leute blocken ab, wenn man ihre Weltsicht hinterfragt. Es herrscht ein Kult der Subjektivität: Was ich fühle, muss richtig sein.

Meines Erachtens hat dieser Kult in der Sportberichterstattung begonnen. Der arme Sportjournalist muss einen Athleten interviewen, der sich gerade verausgabt hat, vier Stunden auf dem Tennisplatz, er schwitzt und schnauft. Fragen nach einem bestimmten Set in der 37. Minute sind müßig, also fragt der Interviewer: Wie fühlen Sie sich? Irgendwie hat sich das verbreitet und den Trugschluss gestützt, dass Bauchgefühl gleich Wahrheit ist.

Was ist es stattdessen?

Ein Gefühl. Im Bauch. Nach der Trump-Wahl habe ich mich gefragt: Wie können so viele Leute einen Mann wählen, der so oft beim Lügen erwischt worden ist? Aber vielen Wählern geht es nicht darum, was er sagt, sondern darum, wie er es sagt: aufrichtig, von Herzen. Sie kommen zum falschen Schluss, dass eine aufrichtige Aussage auch wahr ist. Mich schockiert auch, wenn vor den deutschen und französischen Wahlen sich die Debatte nicht mehr um politische Positionen dreht, sondern um die Art, wie diese Positionen verkauft werden.

Wie begegnen Sie als Bürgerin der USA einer Regierung, die "alternative Fakten" ersinnt?

Mit Gelächter. Es ist Zeit, die Waffen der Aufklärung zu fassen, und das waren keine Waffen der Empörung. Philosophen wie Voltaire haben verstanden, dass Empörung ermüdet. Wir brauchen Gelächter, Satire, Spott. Deshalb hasst Donald Trump die Comedysendung "Saturday Night Live" so sehr.

Genügt Spott?

Der beste Weg, die Legitimität eines Herrschers zu untergraben, ist, ihn lächerlich aussehen zu lassen. Es gab nie ein besseres Ziel als Donald Trump.

Ein Forscher aus Berkeley will Politiker werden mit dem Motto "Liberty, Equality, Reality".

Ja, und im April organisieren Wissenschaftler einen "Marsch für die Wirklichkeit". Vielleicht gehe ich hin.

Sollten sich Wissenschaftler so einmischen?

Wissenschaftler können helfen. Ihre Studien dienen etwa Bürgerrechtsorganisationen, wenn diese die Regierung verklagen. Problematischer wird es, wenn Akademiker sich als Kulturträger verstehen. Wir sind Bürger wie alle anderen auch. Aber wir können helfen. Und natürlich müssen wir einstehen gegen falsche Behauptungen. Das betrifft nicht nur Klimaforscher, sondern auch Historiker, etwa der afroamerikanischen Geschichte.

Viele Firmen finanzieren Forschung. Können wir akademischen Fakten noch trauen?

Das ist eine Gefahr, vor allem im Bereich der Biomedizin. Große Pharmafirmen pumpen viel Geld in die Forschung, manche fabrizieren fertige Studien und fragen prominente Forscher an, ob sie ihre Namen dazusetzen wollen. Das Misstrauen ist berechtigt, und es ist höchste Zeit, dass die Universitäten hier durchgreifen, ihren Ruf retten.

Ist die Wissenschaft in den USA gefährdet?

Ja. Durch die Tatsache, dass viele Universitäten ihre Ausbildung heute wie Produkte anbieten. Es ist fatal, wenn Orte wie Yale und Harvard ein Ausdruck der Marktkultur sind statt ein Gegengewicht zu ihr.

Das hat mit Trump aber nichts zu tun.

Nein. Viele US-Regierungen waren wissenschaftsfeindlich. Wir sind eine eher antiintellektuelle Kultur. Das hat den Vorteil, dass Akademiker bei uns, anders als in Europa, seltener versucht sind, sich aufzublasen und über Dinge zu predigen, von denen sie nichts verstehen.

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Quelle:
SZ vom 07.03.2017
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