Süddeutsche Zeitung

Archäologie:Die Toten aus dem Bootshaus

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Von Hubert Filser

Kleinkinder und Jugendliche flüchteten in Panik in Richtung Meer. Zusammen mit ihren Eltern suchten sie dort verzweifelt Schutz in den steinernen Bootshäusern. Manche rannten weiter direkt auf den Strand am Ufer des Mittelmeers. In einem der Häuser von Herculaneum, dem Collegium Augustalium, einer Art Priesterkolleg, legte sich zur gleichen Zeit ein etwa 25-jähriger Mann mit dem Gesicht nach unten auf ein Holzbett und erwartete die nahende Katastrophe.

Der Vesuv war ausgebrochen im Jahr 79, Pompeji, Oplontis und Stabiae hatte er bereits unter meterhohen Ascheschichten begraben. In Herculaneum, einer knapp 20 Kilometer nordwestlich von Pompeji gelegenen, reichen Stadt am Golf von Neapel, war den Bewohnern ein bisschen mehr Zeit geblieben. Die Stadt lag leicht seitlich der Hauptausbruchsrichtung, sie war von den Ausläufern mehrerer pyroklastischer Ströme getroffen worden, von mit bis zu 700 Kilometern pro Stunde ins Tal schießenden, dichten und extrem heißen Wellen aus Asche, Gas und Gestein.

Bislang nahmen Forscher aber an, dass in diesen mehreren 100 Grad heißen Strömen zumindest die Weichteile menschlicher Körper schlagartig verdampften. Nun sind zwei Studien erschienen, die den Tod der Menschen am Strand und des Mannes auf dem Holzbett untersuchen und in beiden Fällen ein ziemlich düsteres Bild zeichnen.

Eine im Fachmagazin Antiquity veröffentliche Arbeit stellt dabei die Verdampfungshypothese infrage. Forscher um Tim Thompson, Professor für Angewandte Biologische Anthropologie an der Universität Teesside in England, untersuchten Rippenknochen von insgesamt 152 Toten aus den Bootshäusern, den sogenannten "fornici". Ihr Fazit: Der Zustand der Knochen deutet darauf hin, dass die Menschen nicht sofort im heißen pyroklastischen Strom starben, sondern sowohl die mächtigen Mauern der "fornici" wie auch die dicht gedrängten Leiber der Menschen selbst einen gewissen Schutz gegen die Hitze boten. "In den Knochen war noch reichlich Kollagen erhalten und wir mussten die Theorie überdenken, dass die Körper der Menschen verdampft sein könnten", sagt Thompson.

Am sichersten Ort lagen Kinder. Die Männer warteten im Freien auf den Tod

Auch Untersuchungen der kristallinen Mikrostruktur der Knochen, die sich temperaturabhängig ändert, bestätigten dieses Bild. Demnach herrschten maximal Temperaturen von 240 Grad Celsius - viel weniger als die bis zu 1000 Grad, die pyroklastische Ströme erreichen können. "Die Kombination aus schützenden Steinmauern und dicht gepackten Körpern schuf offenbar die Voraussetzung dafür, dass das Gewebe nicht schlagartig verdampfte", sagt Thompson. Was sie allerdings nicht vor dem Tod rettete, sondern vermutlich eher ihr Leiden verlängerte. "Wir glauben, dass die Opfer erstickten, als sie in den Bootshäusern eingeschlossen wurden." In den Gebäuden herrschten wohl Temperaturen wie in einem Backofen.

Auch die archäologischen Befunde spiegeln die Verzweiflung der Menschen und ihrer letzten Minuten wider. Man identifizierte in den Bootshäusern von Herculaneum die Kleinkinder und Jugendlichen ganz hinten am vermeintlich sichersten Ort, davor drückten sich die Mütter ganz eng an sie und an der am wenigsten vor dem Asche- und Steinregen geschützten Stelle fanden sich die männlichen Skelette. Archäologen zählten später die Toten, es waren 340 Menschen in den 12 Bootshäusern, das Verhältnis von Frauen und Kindern zu Männern lag bei zwei zu eins. Am Strand fanden sich deutlich mehr Männer.

Parallel zur Antiquity-Studie veröffentlichte ein Team um Pierpaolo Petrone von der Universität Neapel im New England Journal of Medicine einen spektakulären Einzelfall. Der forensische Anthropologe untersucht seit Jahren die menschlichen Überreste aus Pompeji und den anderen vom Vesuv zerstörten Städten. In einem Aufsatz schildern er und seine Kollegen das Schicksal des 25-jährigen Mannes auf dem Holzbett. Im Schädel des Toten war Petrone ein glänzender, schwarzer Brocken aufgefallen - vermutlich die Überreste menschlichen Gehirngewebes, wie die Forscher schreiben.

Das Gehirn war zu Glas geworden. "Bis heute wurden noch nie verglaste Reste eines Gehirns gefunden", sagt Petrone. Im Glas hatte er Proteine entdeckt, die typischerweise in Gehirngewebe vorkommen, zudem Fettsäuren, die in menschlichem Haar enthalten sind. Der Tote könnte der Hausmeister des Collegium Augustalium gewesen und aus Pflichterfüllung nicht wie die anderen in Richtung Meer geflohen sein. Analysen des verkohlten Betts ergaben, dass die Temperaturen im Raum höher als 520 Grad Celsius gewesen sein müssen. Dieser Wert hätte wohl zur Verglasung des Gehirns ausgereicht.

Die beiden Ergebnisse scheinen sich hinsichtlich der Temperatur der pyroklastischen Ströme zu widersprechen, 240 Grad in den Bootshäusern versus 520 Grad weiter oben in der Stadt. Möglicherweise waren die Kontexte entscheidend für die lokale Temperatur, glaubt zumindest Thompson. "Unsere untersuchten Opfer fanden sich an einem von Steinmauern geschützten Ort, der Fall von Petrone stammt von einem exponierten Ort."

Zudem merkt der britische Forscher an, dass Petrones Studie zwar interessant sei, aber nur ein Einzelfall. "Wir haben eine Verglasung des Gehirns bislang noch bei keinem anderen experimentellen, archäologischen oder forensischen Einäscherungs- oder Verbrennungsvorgang gesehen", sagt Thompson.

Die Bioarchäologin Kristina Killgrave von der Universität North Carolina, die selbst Skelette in Oplontis untersucht hatte, hält Petrones Analyse zwar für "faszinierend", aber sie glaube nicht, dass damit bewiesen sei, dass es sich "um menschliches Gehirnmaterial handelt", sagte sie der New York Times. Andere Ursprünge seien nicht ausgeschlossen. Die identifizierten Fettsäuren seien lediglich typisch für pflanzliche und tierische Fette oder Haare.

Petrone seinerseits meldet weiteren Untersuchungsbedarf für die Toten aus den Bootshäusern an. Er hatte in einer 2018 in Plos One veröffentlichten Studie die Theorie aufgestellt, dass die Gehirne der Toten aus den "fornici" regelrecht explodiert seien. Man müsse nicht nur die Knochen untersuchen, sondern eine umfassende forensische Analyse der Körper machen.

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Quelle:
SZ vom 27.01.2020
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