Süddeutsche Zeitung

Unfallforschung:Der ganz reale Crashtest

Lesezeit: 4 min

Zwischen Blut und Verletzten suchen Dresdner Unfallforscher Erkenntnisse, die Dummys nicht liefern können.

Martin U. Müller

Soeben braust ein Büroklammerspender gegen einen Bleistiftspitzer. Das nennt Tobias Gärtner Unfallrekonstruktion. Menschenleben soll es retten, wenn der Ingenieur Unfälle nachstellt wie den von diesem Kleinlaster, der in einen Golf raste. Schreibtischutensilien gebraucht Gärtner dabei nur selten, üblicherweise trägt er die Bremsverläufe in Tabellen ein und verstellt auf dem Computermonitor Winkel per Mausklick so lange, bis die Autos genauso stehen wie auf der Straße direkt nach dem Crash.

Am Bildschirm klickt er sich durch zahllose Fotos mit zerbeulten Autos, blutigen Airbags und manchmal auch mit Toten - wie andere Leute mal eben Urlaubsbilder zeigen. 422337 Personen wurden im vergangenen Jahr bei Verkehrsunfällen in Deutschland verletzt, 5091 getötet. Die Zahlen sind rückläufig, denn Autos werden immer sicherer und die Forschung der Automobilkonzerne besser.

Doch ein Crashtest-Dummy hat keine Knochen, keine Nervenfasern und keine Schlagadern. Sensoren am Eisengerippe der Puppen messen Belastungen. Das sei im besten Fall aber nur eine Annäherung an die Realität, meint Gärtner und ergänzt wie auswendig gelernt: "Crash-Tests sind teuer, Unfälle passieren einfach so."

Egal ob ein Unfall an der Kreuzung, auf der Überholspur oder in der Spielstraße: Die ganz alltäglichen Kollisionen fernab von Teststrecken und Crash-Simulationen sind die Forschungsobjekte der Unfallrekonstrukteure der TU Dresden. Sobald ein Verkehrsunfall mit Personenschaden gemeldet wird, rücken Teams mit Blaulicht aus, zerstückeln das Geschehen in bis zu 3000 Einzelvariablen und fotografieren jedes Detail am Unfallort. Ihre Daten werden später Tobias Gärtner und seine Kollegen analysieren; sie sollen helfen, Menschenleben im Straßenverkehr zu schützen.

Donnerstag, kurz vor zwölf Uhr, auf einem Parkplatz der Universität. Maria Erbrecht trägt eine rote Hose, ein weißes T-Shirt und eine Weste mit gelben Reflektorstreifen. Sie studiert Medizin im 6.Semester und ist heute Dienst habende Medizinerin, wie es im UFO-Deutsch heißt. UFO steht für Unfallforschung. Dazu braucht Erbrecht Maßbänder, Windrichtungsmesser, Winkelmesser und - ganz wichtig: Schokoriegel. Die verstaut sie gerade, sortiert nach Geschmacksrichtungen, im Handschuhfach.

In der Einsatzzentrale sitzt der "Ko", das ist Koordinator Michael Ackermann, vor ihm drei Funkgeräte, aus denen Polizeikanäle sächseln. Das Telefon klingelt, nun sächselt auch Ackermann und notiert den "Landesstraßenkilometer". Die beiden Maschinenbaustudenten Robert Richter und Martin Petzold schnappen sich ihre Laptops, und zusammen mit Maria Erbrecht laufen sie in olympischem Gehertempo zum Parkplatz.

Am Steuer des silbernen Vans hat Erbrecht Probleme, am Einsatzfahrzeug der Techniker dranzubleiben. "Ich bin nicht blaulichtgeil. Vielleicht sensationsgeil", sagt sie und wechselt konzentriert die Spur.

Nach einer knappen halben Stunde Fahrt kommen die Unfallforscher an der kleinen Verbindungsstraße an. Der Notarztwagen fährt gerade ab, die Feuerwehr sichert das Wrack. Ein tiefergelegter Tigra mit "Opelfreunde Pulsnitztal"- und "Böhse Onkelz"-Aufklebern ist von der Straße abgekommen und hängt nun bergab in einer Leitplanke. Das Dach ist verbogen, der Innenraum blutgetränkt. Eine Bassbox hat sich in die Sportsitze gebohrt.

Routiniert umsprühen Robert Richter und Martin Petzold jeden Stein auf der Straße mit neonroter Farbe. So wollen sie sicherstellen, dass sie später auf den Fotos von der Unfallstelle die Details noch erkennen können. "Das Auto ist aufs Kiesbett gekommen", sagt Richter. Die Kurve sieht ungefährlich aus. "Hier war massive Geschwindigkeit im Spiel", ist er sicher. Der dritte Gang ist eingelegt. "Eindeutig beschleunigt."

Niemals das Lenkrad beim Aufrpall umklammern

Ein Trupp junger Feuerwehrmänner schießt Erinnerungsbilder fürs Handyalbum. "Die war nie angeschnallt", will einer wissen. "Unsinn", murmelt Robert Richter und vermisst den Innenraum. "Der Gurt war für diesen Sportsitz einfach nicht geeignet." Windrichtung, Anprallwinkel, Deformationen, Zusatzausstattung - die drei Studenten müssen eine Unmenge Fragen noch vor Ort mittels Touch-Pad beantworten. Zeitdruck gehört zum Einsatz dazu, die Unfallstelle soll so schnell wie möglich geräumt werden.

Die Tigra-Fahrerin liegt im Schockraum der Universitätsklinik Dresden, als Maria Erbrecht dort eintrifft. Das Personal der Notaufnahme kennt die UFO, man begrüßt sich mit Handschlag und tauscht den neuesten Unfalltratsch aus.

Die schwer verletzte Patientin hat sich am Armaturenbrett den Gesichtsschädel kaputtgeschlagen, ihr Kiefer ist dreimal durchgebrochen, alle Schneidezähne fehlen. Erbrecht fotografiert Röntgenbilder, Wunden und Notarztberichte - für die Befragung der Fahrerin wird sie wiederkommen müssen. "Der Bruch der Handgelenke kommt davon, dass sie das Lenkrad beim Aufprall fest umklammert hat. Das sollte man nie tun."

Maria Erbrecht überfliegt die Befunde der Patientin, die genauso alt ist wie sie selbst. Im Kopf puzzelt sie die Bilder der blauen Blechteile, die einmal ein getunter Opel Tigra waren, mit den Verletzungen zusammen.

Wenn die Forscher den Unfallhergang rekonstruiert haben, greifen Autohersteller wie BMW, Volkswagen oder Mercedes auf ihre Daten zurück. "Für die Industrie sind die Daten entscheidend. Man kann so einen Vergleich zwischen dem realen Unfallgeschehen und den Crashtests herstellen", sagt Lars Hannawald, Forschungsleiter bei der Dresdner Unfallforschung.

Die bisher rund 15.000 ausgewerteten Unfälle können zudem helfen, neue Warngeräte oder Bremsassistenten zu entwickeln. Neben der Industrie finanziert auch die Bundesanstalt für Straßenverkehr die Unfallforschung an der TU Dresden und der Medizinischen Hochschule Hannover, den beiden einzigen Standorten dieser Art in Deutschland. Hannawald ist stolz, seine Empfehlungen zur Fußgängersicherheit haben es bis ins Gesetzgebungsverfahren der EU geschafft: "Wir konnten beweisen, dass ein bestimmtes Bremssystem mehr Sicherheit bringt, weil weniger Fußgänger verletzt werden."

Eine andere Studie, eigentlich zum Thema Kopfanprallverletzungen, brachte den für die Dresdner Unfallforscher wichtigsten Nebenbeibefund: In Zusammensetzung und Aktualität entspricht ihre Datenbank am ehesten dem realen Unfallgeschehen. Dass Autos sicherer werden, ist wohl auch ein Verdienst von Lars Hannawald und seinen Kollegen - trotzdem haben im vergangenen Jahr immer noch 14Menschen pro Tag ihr Leben im Straßenverkehr verloren.

Für die Medizinstudentin Maria Erbrecht bleibt im Krankenhaus keine Zeit für Kaffee aus der Thermoskanne. Aus einem Dorf bei Meißen wird ein Unfall gemeldet. Mit quietschenden Reifen und Blaulicht fährt sie vom Klinikgelände. Beim Überfahren einer roten Ampel spricht sie von einer LZA, einer Lichtzeichenanlage. Sie denkt in Codevariablen, Bremsspuren, Gurtstraffern und nicht in Blut, Tränen, Leid. "Einen Motorradfahrer als Freund? Von dem hat man ja nicht lange was.

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Quelle:
SZ vom 8.2.2008
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