Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Die gute Tat gewinnt

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Was wiegt schwerer, wenn Menschen andere spontan beurteilen: ihr Verhalten, oder Vorurteile aufgrund der äußeren Erscheinung? Eine neue Studie macht Hoffnung.

Von Sebastian Herrmann

In der vollen S-Bahn sitzt ein Büffel von einem Typen. Oberkörper und Arme sind aufgepumpt, auf dem kahlen Hinterkopf prangt eine Tätowierung über dem Stiernacken. Was genau da steht, ist ohne aufdringliches Starren nicht zu erkennen - und bei dem Typen könnte aufdringliches Starren eine blöde Idee sein. Breitbeinig hockt er zwischen den anderen Fahrgästen, nimmt viel Raum ein und drückt auf seinem Handy herum. Da steigt eine alte Frau zu, die an einer Krücke geht. Sofort steht der Büffel auf und bietet der Dame seinen Platz an. Als die S-Bahn anfährt und die Dame sich gesetzt hat, nickt er ihr noch einmal kurz zu, stellt sich dann an einen Platz in der Nähe der Türe und widmet sich wieder seinem Handy.

Was wird das Urteil der anderen anwesenden Fahrgäste über den Mann in dieser Situation stärker prägen: sein hilfsbereites Verhalten oder sein Äußeres, das dem Stereotyp eines Schlägers entspricht?

Die Psychologinnen Jana Mangels und Juliane Dreger von der Universität Hamburg haben sich mit der Frage beschäftigt, unter welchen Bedingungen Stereotype eine wesentliche Rolle in der Beurteilung von Menschen spielen. Das Ergebnis ihrer Studie, die sie im Fachblatt Journal of Experimental Social Psychology publiziert haben, lässt sich durchaus positiv interpretieren: Zeigen Menschen eindeutiges Verhalten, prägt das die Bewertung durch andere offenbar stärker als die stereotypen Vorstellungen über die Person.

Ambivalente Szenen könnten mehr Raum für Vorurteile lassen als eindeutiges Verhalten

"Wenn wir uns einen Eindruck von anderen Menschen verschaffen", schreiben die Psychologinnen, "dann stehen Menschen eine Vielzahl verschiedener, teilweise widersprüchlicher Informationen zur Verfügung." Dass zum Beispiel das Verhalten als Anhaltspunkt für ein Urteil über die grundsätzlichen Eigenschaften einer Person dient, ist gut belegt und als Spontaneous Trait Inference (STI) in der Forschungsliteratur bekannt - grob übersetzt: spontane Persönlichkeitszuschreibung. Wenn Menschen zum Beispiel Fremde beobachten, wie sie andere freundlich grüßen oder ein Quiz lösen, schließen sie daraus fast automatisch, die betreffende Person sei freundlich oder schlau. Auch die prägende Wirkung von Stereotypen ist gut untersucht. Also dass Beobachter ein unmittelbares Urteil fällen, weil ein Mann, eine Frau, ein Mensch mit heller oder dunkler Haut oder andere Identitäten angeblich so oder so seien.

"Wir wollten wissen, unter welchen Bedingungen Stereotype die Beurteilung anderer beeinflussen", sagt Mangels. Besonders interessierte es sie, wenn ein Verhalten im Widerspruch zu einem Stereotyp über die Person stand, wie eben etwa dann, wenn sich ein vermeintlicher Schläger hilfsbereit verhält. Die Wissenschaftlerinnen ließen ihre etwas mehr als 1000 Probanden ähnliche Szenarien bewerten. Dabei zeigte sich in drei Versuchen keine Wirkung von Stereotypen, in einem vierten ein kleiner Effekt. Das beschriebene Verhalten wirkte demnach stärker als die stereotypen Vorstellungen, die in den Szenarien geweckt wurden. "Entscheidend ist dabei, dass das Verhalten eindeutig ist", sagt Mangels. Unklare, ambivalente Vorgänge ließen der Wirkung von Vorurteilen hingegen vermutlich größeren Raum.

"Stereotype sind also womöglich nicht so dominant, wie das oft angenommen wird", sagt Degner. Wie lange ein Urteil über einen anderen Menschen auf Basis von dessen Verhalten allerdings Bestand hat, sei unklar, so die Psychologinnen. Aber immerhin, eine frohe Botschaft bleibt: An ihren Taten werden die Menschen gemessen, weniger an ihrem Äußeren, vermutlich zumindest und ein kleines bisschen.

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