Süddeutsche Zeitung

Selbstüberschätzung:Wir sind alle Helden

Lesezeit: 4 Min.

Menschenkenntnis, Intelligenz, Bildung: Menschen liegen chronisch daneben, wenn sie ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen. Warum bloß?

Von Sebastian Herrmann

Die Menschen befinden sich auf einer kollektiven Suche. Ständig sind sie unterwegs, immer streben sie einem Ziel entgegen: endlich zu sich selbst zu finden. Die Suche nach dem eigenen Selbst scheint die Mission der Gegenwart zu sein, und sie wird so bald nicht enden.

Denn offenbar wissen die meisten gar nicht, wonach sie da eigentlich suchen. Das Bild vom eigenen Selbst erscheint reichlich verzerrt. Das legt die Lektüre einer umfassenden Analyse nahe, die im Fachmagazin Perspectives on Psychological Science (Bd. 9, S. 111, 2014) erschienen ist. Darin fassen die beiden Psychologen Ethan Zell von der University of North Carolina und Zlatan Krizan von der Iowa State University 22 Meta-Studien mit insgesamt mehr als 200 000 Teilnehmern zu der Frage zusammen, wie zutreffend Menschen sich selbst einschätzen können.

Die kurze Antwort lautet: Die Mehrheit liegt ziemlich weit daneben, wenn sie die eigenen Fertigkeiten in verschiedenen Bereichen einschätzen sollen. Sie halten sich für besser als sie sind, oder sie machen sich kleiner als sie sind.

Keine Berufsgruppe ist vor Selbstüberschätzung gefeit

Benjamin Franklin fasste es schon 1750 prägnant zusammen. Drei Dinge in dieser Welt seien extrem hart, unkte der Naturwissenschaftler und einer der Gründerväter der USA: Stahl, Diamanten und sich selbst zu kennen. Diesen Spruch haben Psychologen seitdem mit einer erstaunlichen Masse an Studien zur fehlbaren Selbstwahrnehmung der Menschen untermauert.

Nur ein paar Beispiele: Angehende Ärzte zeigten sich in mehreren Untersuchungen von ihrer Heilkunst wesentlich überzeugter, als die Bewertungen von Vorgesetzten oder ihre Ergebnisse in evaluierten Tests es rechtfertigten. Das Gleiche gilt für andere Angestellte dieser Welt. Zwischen der Beurteilung ihrer Arbeit durch sie selbst oder durch Vorgesetzte und Kollegen klafft im Schnitt eine große Lücke. Musiker und deren Lehrer, Sportler und deren Trainer oder Studenten und deren Dozenten: Eigen- und Fremdwahrnehmung liegen stets weit auseinander. Zu all diesen Gruppen finden sich Studien, die den jeweiligen Probanden mangelhafte Selbstwahrnehmung attestieren.

Am deutlichsten offenbart sich dieses Phänomen, wenn Menschen ihre Fähigkeiten heftig überschätzen. Im Zeitalter der Castingshows löst das regelmäßig Fremdscham-Attacken aus. Ausgerechnet die am wenigsten kompetenten Menschen scheinen sich oft für die Größten zu halten und landen dann zum Beispiel im Fernsehen, wo sie sich vor einer Jury blamieren dürfen. Diesen Zusammenhang belegten zwei Psychologen in der wahrscheinlich bekanntesten Studie zu verzerrter Selbstwahrnehmung. David Dunning und Justin Kruger wurden dafür sogar mit dem satirischen Ig-Nobelpeis ausgezeichnet. Ihre Arbeit zeigte, dass der Grad der Selbstüberschätzung mit dem Ausmaß an Unwissen einhergeht - nicht nur in Castingshows.

Doch es geht um mehr als akute Peinlichkeiten und Blamagen. Die Fähigkeit zu einer halbwegs akkuraten Selbsteinschätzung entscheide wesentlich, wie ein Leben verläuft, schreiben Zell und Krizan in ihrer Analyse. Ein aufgeblasenes Selbstbewusstsein führt womöglich zu einer Berufswahl, für die der verblendete Angeber unterqualifiziert ist. Wer sich selbst kleinredet, entscheidet sich hingegen für eine Tätigkeit, die ihn deutlich unterfordert. "Die meisten Menschen sind sich ihrer verzerrten Selbstwahrnehmung nicht bewusst", sagen Zell und Krizan. Und das Feedback aus ihrer Umgebung stößt sie auch selten darauf, dass sie vielleicht auf dem Holzweg sind. Höflichkeit und Ehrlichkeit schließen einander oft aus. Das wüssten die Menschen in der Regel - trotzdem nehmen sie ein Lob wörtlich, so die Psychologen.

Die entscheidenden Fragen lauten also, unter welchen Bedingungen die Selbstwahrnehmung besonders vernebelt ist und wie sich der Schleier eventuell lüften lässt. Die meisten der vielen Studien und Meta-Analysen zu dem Thema widmen sich einzelnen, spezifischen Fähigkeiten und überprüfen zum Beispiel die Selbsteinschätzung bei Intelligenz, Gedächtnisleistungen oder sozialer Kompetenz. Diese ganzen Untersuchungen haben Zell und Krizan nun zusammengeworfen, um ein breiteres Panorama zu erhalten.

Das Gefühl ist entscheidend

Quer durch alle Studien ergab sich dabei das vertraute Bild, wonach die Selbsteinschätzung der Menschen generell medioker ausfällt. Je konkreter eine Aufgabe ist, in der sich ein Proband selbst einschätzen soll, desto besser gelingt sein Urteil - wenn auch nur ein kleines bisschen. Die Psychologen illustrieren das mit einem Beispiel aus dem Sport. Bittet man jemanden, seine Leistungen im Basketball generell einzuordnen, fällt ihm das schwerer, als wenn man ihn um eine Prognose seiner Trefferquote bei Freiwürfen fragt.

Doch der Unterschied ist eben gering. Das Gleiche gilt für die Frage, ob Antworten präziser ausfallen, je nachdem ob sie vor oder nach der Erledigung einer Aufgabe gegeben werden. Erstaunlicherweise hilft es nicht, seine Testergebnisse exakter einzuschätzen, wenn eine Prüfung bereits geschrieben wurde. Entscheidend ist das Gefühl der Probanden: Mit einem negativ gefärbten Selbstbild erscheinen Prüfungen schwerer und umgekehrt - auch wenn gleiche Ergebnisse erzielt werden.

Einige weitere Ergebnisse der Psychologen klingen sehr naheliegend. So fällt die Selbsteinschätzung bei bekannten und bei einfachen Aufgaben leichter als bei unbekannten und schweren. Die Überraschung liegt allerdings darin, dass die Unterschiede so gering sind. Ja, die Fähigkeit zum objektiven Blick steigt mit der Übung, aber allenfalls von "sehr mies" zu "mies".

Nur bei der Sprache gibt es ein klares Bild

In der Auswertung der Selbsteinschätzung bei spezifischen Tätigkeiten identifizierten die Psychologen mutmaßlich den Schlüssel dazu, wie sich der Nebel lichten lässt. Der einzige positive Ausreißer findet sich nämlich bei sprachlichen Fertigkeiten. Da wissen Menschen offenbar recht gut, was sie können und was sie nicht drauf haben. "Sprachfertigkeit ist ein Feld, in dem wir permanentes Feedback bekommen und in dem Leistung objektiv definierbar ist", sagen Zell und Krizan. Entweder man wird verstanden oder nicht - so einfach ist das. So ehrliches Feedback gibt es sonst fast nie. Zum Beispiel klärt sich nur selten auf, ob ein Gesprächspartner lügt oder nicht. Deshalb ist es so leicht, seine Menschenkenntnis zu überschätzen: Dabei offenbaren Menschen laut der aktuellen Studie einen besonderen Hang dazu, die eigenen Fertigkeiten zu überhöhen.

Also, was bedeutet all das für den gängigen Spruch: Niemand kennt dich wie du selbst? Nun, dass er vielleicht so lauten müsste: Niemand hat ein so verzerrtes Bild von dir wie du selbst.

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Quelle:
SZ vom 29.03.2014
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