Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Und noch ein Pieps

Lesezeit: 2 min

Über den menschlichen Drang, Dinge immer komplizierter zu machen

Von Sebastian Herrmann

Eines Tages haben die Geräte begonnen, ihre Besitzer anzupiepen. Die Waschmaschine zum Beispiel. Dass die Wäsche nun fertig sei und aufgehängt werden könne, zeigten diese Maschinen früher an, indem sie die Geräuschentwicklung einstellten. Jetzt aber: Auf Schleudergerumpel folgt Piepen statt Stille. Oder der Kühlschrank. Steht die Tür einen Moment zu lang offen, beginnt das Ding zu piepen. Und natürlich das Auto. Zu Beginn der Pieps-Ära erzog das Kfz seine Halter lediglich per Geräuschpenetranz, wenn der Gurt nicht angelegt war. Doch dann gaben Ingenieure alle Zurückhaltung auf und statteten Autos mit unzähligen Warn- und Assistenzsystemen aus. Jetzt piept es beim Einparken, es piept, wenn ein Sensor findet, der Fahrer sei müde. Dazwischen piepen unklare Warnhinweise, die einen verwirrt auf dem Display oder den unzähligen Knöpfen auf dem Lenkrad herumdrücken lassen.

Wie konnte das passieren? Wenn Ingenieure etwas toller, besser, neuer machen wollen, erfinden sie Zusatzfunktionen. Zu ihrer Verteidigung sei gesagt: Selbst Ingenieure sind nur Menschen, diese Art des Denkens scheint universell zu sein. So haben Psychologen zuletzt mehrere Studien veröffentlicht, die diesen Umstand demonstrieren. Wenn Dinge oder Ideen verbessert werden sollen, wird automatisch hinzugefügt. Besser bedeutet für die meisten Menschen vor allem: mehr. Mehr Funktionen, mehr Projekte, mehr Arbeit, mehr Zeug. Dass es auch zu Verbesserung führen kann, Elemente zu entfernen, bedenkt kaum jemand.

Wie man Dinge verbessert? Die meisten bauen noch etwas dazu

Menschen übersähen diese Möglichkeit systematisch, sagen gerade französische Psychologen um Adrien Fillon, die Versuche britischer Kollegen aus dem vergangenen Jahr erfolgreich wiederholt und erweitert haben. Mal sollten Probanden die Stabilität einer Lego-Struktur erhöhen, mal einen Mini-Golf-Kurs verbessern. Stets bestand die einfachste und erfolgreichste Möglichkeit darin, Elemente zu entfernen. Doch die Versuchsteilnehmer fügten stattdessen etwas hinzu und machten die Dinge vor allem komplizierter.

Dass weniger mehr sei, scheint also eine leere Floskel zu sein, die Menschen selten berücksichtigen. Das könnte daran liegen, so argumentieren Fillon und andere Wissenschaftler, dass es weniger Applaus gibt, wenn man etwas Altes weglässt, statt Neues zu erschaffen. Wer Ideen aussortiert, Funktionen streicht oder Projekte abbricht, kritisiert diese implizit als überflüssig oder gar wertlos. Daraus könnte sich der Widerstand speisen, Verbesserungen durch Streichung zu versuchen. In den Versuchen der Psychologen um Fillon bedachten die Teilnehmer diese Möglichkeit auch nur dann, wenn sie ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht wurden.

Vielleicht gibt es nur eine Situation im Leben, in der Menschen in positiver Veränderungsabsicht systematisch Dinge streichen wollen: in der Rückschau auf ihre Vergangenheit. Dann grübeln sie darüber, dass ihr Leben besser verlaufen wäre, wenn nur dieses oder jenes nicht passiert wäre. Vielleicht gibt es sogar irgendwo Ingenieure, die darüber nachdenken, ob die Welt ohne piepende Geräte ein kleines bisschen besser wäre.

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