Süddeutsche Zeitung

Oliver Sacks wird 75:Hirnforschung mit Mitgefühl

Lesezeit: 2 min

Die meisten Menschen kennen Oliver Sacks als Rolle des Schauspielers Robin Williams in "Zeit des Erwachens". Doch der Neurologe steht nicht nur auf der Kinoleinwand für Gefühl und Dramatik.

Markus C. Schulte von Drach

Vermutlich denken die meisten Menschen eher an Robin Williams und Robert de Niro, wenn die Sprache auf den Film "Zeit des Erwachsens" kommt. Doch was viele Menschen nur als eindrucksvolles Hollywood-Drama wahrgenommen haben, war in der Realität der Start der eindrucksvollen Karriere von Oliver Sacks als Hirnforscher.

Irgendwie passt es zur Arbeit des Neurologen, der heute seinen 75. Geburtstag feiert, dass weniger Menschen seinen Namen mit seinem eigenen Gesicht verbinden als mit dem des Schauspielers Williams. Denn Sacks hat sich in der Öffentlichkeit weniger durch bahnbrechende Entdeckungen hervorgetan als vielmehr dadurch, dass er bis heute seriös und spannend zugleich von den Schicksalen von Menschen erzählt, die unter Hirnstörungen leiden.

Das macht Bücher wie "Zeit des Erwachens" und noch viel mehr die Sammlungen von Fällen, wie Sacks sie zum Beispiel unter dem Titel "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" veröffentlicht hat, so wertvoll. Dass Sacks die Betroffenen als Persönlichkeiten, die mit einem Schicksalsschlag umzugehen hatten, in den Vordergrund stellt, bringt die Beobachtungen und Erkenntnisse der Hirnforschung einem erheblich breiteren Publikum näher als es jedes Sachbuch könnte.

Was Sacks auf diese Weise demonstriert, ist nichts weniger als die Art und Weise, wie wir uns das Bild der Welt zusammensetzen. Es sind ausgerechnet die Ausfälle bestimmter Funktionen, die zeigen, wie viele Facetten unsere Wahrnehmung hat und wie unser Gehirn sie verarbeitet. So konnte er am Beispiel seiner aufgrund der Europäischen Schlafkrankheit "erstarrten" Patienten zeigen, dass es ein einziges Molekül sein kann, von dem es abhängt, ob unser Bewusstsein eine Verbindung zur Außenwelt herstellen kann.

Andere seiner Patienten litten unter Wahrnehmungsstörungen - wie eben jener Musikprofessor, der nicht mehr in der Lage war, andere Menschen zu erkennen, seine Frau mit einem Hut auf einem Kleiderständer verwechselte und Parkuhren über den "Kopf" strich, da er sie für Kinder hielt.

Keine Freakshow

"Eine winzige Hirnverletzung, ein kleiner Tumult in der cerebralen Chemie - und wir geraten in eine andere Welt", beschreibt Sacks seine Beobachtungen, die er noch immer auf einer Schreibmaschine festhält. Und zwar auf eine Weise, dass auch Leser ohne die geringste Vorbildung verstehen, wovon er schreibt. Aus diesem Grund geraten Sacks Darstellungen trotz der teilweise gruseligen Fälle nicht zu einem Horrorkabinett oder einer Freakshow.

Inzwischen sind es bereits mehr als 40 Jahre, die Sacks als Neurologe und Psychiater am Albert Einstein College in New York arbeitet und in denen er zehn Bücher geschrieben hat.

Sacks, der aus einer Arztfamilie stammt, und dessen drei Brüder ebenfalls alle Mediziner wurden, kam 1933 in London zur Welt. Nach einer vom Krieg geprägten Kindheit studierte er am Queen's College in Oxford. 1960 ging er in die USA, wo er zuerst am Mount Zion Hospital in San Francisco arbeitete. Dann wechselte er zur University of California in Los Angeles und 1965 ans Albert Einstein College of Medicine in New York.

Trotz seines hohen Alters denkt er nicht ans Aufhören. Im vergangenen Jahr nahm er einen Ruf an die New Yorker Columbia University an, wo er nicht nur als Mediziner arbeitet, sondern auch den für ihn geschaffenen Posten eines Künstlerischen Professors innehat. Das klingt erst mal ungewöhnlich. Doch ungewöhnlich ist schließlich der ganze Mann. Und gerechtfertigt ist sein Ruf auf einen solchen Posten auch deshalb, weil Sacks sich zum Beispiel seit einigen Jahren auch damit beschäftigt, Musik auf neurowissenschaftlicher Ebene zu untersuchen.

Mit welchem Erfolg, lässt sich nachlesen in seinem eben erschienen Buch "Der einarmige Pianist".

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