Süddeutsche Zeitung

Neurowissenschaft:Widerstand gegen die Wahrheit

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Eine Kommission wirft dem berühmten Biopsychologen Niels Birbaumer wissenschaftliches Fehlverhalten vor. Der Fall offenbart Schwächen im ganzen Forschungsbetrieb.

Kommentar von Patrick Illinger

Was für eine Tragödie. Einer der angesehensten Wissenschaftler Deutschlands verjubelt im letzten Akt seiner Karriere sein über Jahrzehnte gewachsenes Renommee. Eine Kommission der Universität Tübingen hat ihm, dem Biopsychologen Niels Birbaumer, nun offiziell wissenschaftliches Fehlverhalten vorgeworfen.

Noch vor wenigen Monaten hätte Birbaumer den Stein des Anstoßes, eine mangelhafte, vermutlich frisierte Studie aus dem Jahr 2017, freiwillig zurückziehen können. Das wäre vermutlich glimpflich abgegangen, auch wenn die Arbeit, in der es angeblich gelang, mit den Gehirnen komplett gelähmter ALS-Patienten über Ja-Nein-Fragen zu kommunizieren, weltweit als Sensation gefeiert worden war.

Doch der vielfache Preisträger, Ehrendoktor, Mitglied ehrwürdiger Akademien und Medienstar beharrt trotzig auf der mangelhaften Studie. Seine Geisterfahrer-Haltung ist aber nur ein Teil der Geschichte. Mindestens so erschreckend ist, was die Affäre über das Wissenschaftssystem sagt. Um ein Haar wäre der Fall nämlich nie publik geworden.

Viele Fachkollegen kritisierten ihn, aber kaum jemand wagte den Schritt in die Öffentlichkeit

Der Informatiker, der Ungereimtheiten entdeckte, stieß auf ungeheure Widerstände, bei Birbaumer, beim eigenen Vorgesetzten und beim Fachjournal, in dem Birbaumers Studie erschienen war. Das Journal verzögerte mehr als 18 Monate lang eine Entgegnung und hat die fragwürdige Publikation bis heute nicht zurückgezogen. An der Uni Tübingen, so war in den vergangenen Wochen zu hören, gab es ein Ringen um die Frage, ob man einen derart renommierten Kollegen verurteilen sollte.

Geht es eigentlich noch um Wissenschaft, muss man fragen, um Daten und Statistik? Leider nicht nur. Im modernen Wissenschaftsbetrieb sind zutiefst unwissenschaftliche Beharrungskräfte am Werk. "Er hat viel Einfluss" war einer der häufigsten Sätze, die Journalisten der SZ und des SZ-Magazins zu hören bekamen, als sie in der Sache recherchierten. Namhafte Fachleute, arrivierte Lehrstuhlinhaber kritisierten Birbaumers Studie und sein Beharren zwar harsch, aber kaum jemand wollte namentlich an die Öffentlichkeit gehen. So bizarr es klingt: Vieles von dem, was man in dieser Affäre zu hören bekam, erinnerte an Recherchen in repressiven Systemen; an Gespräche mit Menschen, die Angst haben, ihre Meinung zu sagen, weil sie Nachteile befürchten - in diesem Fall versiegende Fördergelder oder die Verachtung der Kollegen.

Tatsächlich halten manche Weggefährten Birbaumers die Aufklärung der Angelegenheit auch jetzt noch für falsch - Fakten hin oder her. Noch in diesem Monat findet eine große Konferenz in Dresden statt. Fünf prominente Vortragende kündigt die Website an. Einer von ihnen ist Niels Birbaumer.

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Quelle:
SZ vom 08.06.2019
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