Süddeutsche Zeitung

Neuropsychologie:Die Bilder der Blinden

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Sonne, Segelboot, Palme - wie von einem Kind gemalt, doch es ist das Traumbild eines von Geburt an Blinden.

Von Christian Weber

Sonne, Segelboot, Palme, zwei Kinder spielen mit Sandeimern, darüber Wölkchen und Möwen. Es ist kein Gemälde, das man sich an die Wand hängen würde, es wirkt wie von Kinderhand gekritzelt. Und doch war es eine kleine Sensation, als ein Forschungsteam um den portugiesischen Biophysiker Helder Bértolo dieses Bild im Jahr 2003 in der Fachzeitschrift Cognitive Brain Research abdruckte. Der Grund: Es stammt von einem von Geburt an blinden Menschen, der aufgefordert worden war, einen Traum zu zeichnen; produziert von einem Gehirn, das noch nie Sonne oder Segelboot gesehen hatte.

Diese Studie gilt als ein Durchbruch bei der alten Streitfrage, wie genau geburtsblinde Menschen denn träumen? Bis zu Bértolos Studie nahmen die meisten Forscher an, dass sie logischerweise nur mit jenen Sinnen träumen können, mit denen sie auch im Wachzustand die Welt wahrnehmen - also mit Hören, Tasten, Riechen, Schmecken. Tatsächlich zeigen viele Untersuchungen, dass diese Empfindungen bei Blinden auch im Traum deutlich intensiver sind als bei den üblicherweise optisch dominierten Nachtgeschichten der Sehenden.

Nun lässt es sich noch nachvollziehen, wieso Menschen, die erst im Laufe ihres Lebens erblindet sind, Bilder und Filme im Kopf aufbewahren, die sie in der Nacht abspielen können. Aber wie schaffen das bloß jene Blinde, die immer nur in innerer Dunkelheit gelebt haben? Eine Hypothese ist, dass zumindest einige Menschen auch durch den Tastsinn räumliche Vorstellungen etwa eines Sandeimers gewinnen können, die sie dann an den visuellen Cortex im Gehirn weiterleiten. Dafür sprechen EEG-Messungen, die eine erhöhte Aktivität in den entsprechenden Hirnregionen entdeckt haben. Zu klären wäre dann noch, wie blinde Menschen die Wolken am Himmel visualisieren. Ein Geheimnis, das es noch aufzuhellen gilt.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2016
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