Süddeutsche Zeitung

Naturkatastrophen:Sommer ohne Sonne

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Schnee im Juni und Hungersnöte in Europa: Der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien am 10./11. April 1815 kostete 80 000 Menschen das Leben und veränderte den Lauf der Welt.

Von Arne Boecker

Sonnenuntergänge wie in diesem Sommer hatten die Londoner noch nie gesehen. Diese leuchtenden, spektakulären Farben! Der Horizont erstrahlte in Rot und Orange, darüber türmten sich Rosa und Lila, durchzogen von grauen und schwarzen Streifen. Ewig dauerte es, bis die Spektakel verloschen. An einem Tag, dem 27. September 1815, wurde es erst eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang richtig dunkel. So richtig erklären konnten sich die Londoner das Phänomen nicht. Viele hatten Angst.

Vor genau 200 Jahren, am 10. und 11. April 1815, brach in Indonesien der Vulkan Tambora aus. Heute sind sich alle Wissenschaftler einig: Es war der schwerste Ausbruch eines Vulkans, seit 181 nach Christus in Neuseeland der Taupo Feuer spie. Die Naturkatastrophe dürfte mindestens 80 000 Menschen das Leben gekostet haben. Viele starben nicht direkt durch die Eruptionen, sondern an Hunger und Not. Der Tambora spuckte so viel Schwefel, dass sich weltweit das Klima veränderte, selbst in Europa und Nordamerika. Das Folgejahr 1816 bekam deswegen den Beinamen "Jahr ohne Sommer". Kälte und Dunkelheit stießen Menschen, die Tausende Kilometer entfernt lebten, in die Armut.

Über Jahrhunderte war der Tambora, gelegen auf der Insel Sumbawa, still und friedlich gewesen. 1812 begann der Vulkan jedoch zu grummeln. Drei Jahre später, am Mittwoch, dem 5. April 1815, explodierte erstmals die unterirdische Kammer, in der die Magma brodelte. Es gibt nur wenige Quellen für das, was damals in Indonesien passierte, die wichtigste heißt Stamford Raffles. Der britische Statthalter schreibt in seinen Erinnerungen: "Die ersten Explosionen konnte man überall hören. Zunächst vermutete man, dass weit entfernt Kanonen abgefeuert worden sein könnten, so dass man Truppen aus Djocjocarta herbeirief. Am nächsten Morgen beseitigte ein leichter Ascheregen alle Zweifel daran, was den Lärm ausgelöst hatte."

Der Vulkan wurde geköpft wie ein Frühstücksei, von 4300 Meter auf 2850 Meter

Am Montag, dem 10. April 1815, begann gegen 19 Uhr die große Eruption des Tambora. Fast drei Stunden spie er Magma. An der Oberfläche verlor die Gesteinsschmelze ihre gasförmigen Bestandteile und verwandelte sich in Lava. Der Schlot warf so viel Asche aus, dass diese nicht in die Höhe stieg, sondern über die Flanken des Berges abfloss. Von drei "Flammensäulen, die sich in großer Höhe vereinigten", berichtete Owen Philipps, der zu Stamford Raffles Trupp gehörte. Steine seien auf die Dörfer herabgeprasselt, einige groß wie zwei Fäuste, die meisten wie Walnüsse. Zwischen 22 und 23 Uhr entwurzelte ein Wirbelsturm Bäume und hob Dächer hinweg.

In der Nacht zum Dienstag, 11. April 1815, muss der Tambora noch ärger gewütet haben. Die Benares hatte vor Makassar geankert, das auf der nordöstlich vom Tambora gelegenen Insel Sulawesi liegt. Der Kapitän notierte im Logbuch: Der Lärm habe lauter als am Vortag gewirkt, "als ob man drei oder vier Gewehre gleichzeitig abgefeuert" hätte. Der Ausbruch "schüttelte das Schiff und auch die Häuser an Land durch". Mit der Angabe elf Uhr schrieb der Kapitän: "Die Asche regnete jetzt förmlich auf uns herab, dies war wahrhaft schrecklich und erschreckend. Mittags verschwand auch das wenige Licht, das im Osten den Horizont aufgehellt hatte, totale Dunkelheit deckte den Tag zu. Das Deck war bald mit Asche bedeckt. Wir setzten achtern und vorn alle Segel, um so gut zu möglich zu verhindern, dass die Asche unter Deck gelangte. Aber sie war so leicht und fein, dass sie in jeden Winkel des Schiffes eindrang."

Ein Tsunami verwüstete die Küste der Inseln Sumbawa, Lombok, Bali und Java. Mancherorts schlug er vier Meter hoch.Das Getöse, das der Vulkan machte, war bis nach Sumatra zu hören; zwischen dem Tambora und der Insel liegen mehr als 2000 Kilometer. In einem Bericht aus Fort Marlborough auf Sumatra heißt es über den Lärm, der an Gewehrschüssen erinnerte: "Man befürchtete, dass im Landesinneren Kämpfe zwischen verfeindeten Dörfern ausgebrochen waren." Als sich diese Vermutung nicht bestätigte, baten die Briten Ureinwohner um Rat. Die sagten: Der Teufel kämpfe mit Vorfahren seiner Gefolgsleute, die sich nach einer Zeit des Innehaltens auf dem Berg nun auf den Weg ins Paradies machten. Halbwegs hell wurde es in der Tambora-Region erst wieder am Mittwoch, dem 12. April 1815. Bis zum August 1819 blieb der Tambora unruhig. Seitdem herrscht Ruhe. Nur 1909 würgte der Tambora noch einmal ein wenig Magma herauf. Allerdings entweicht ständig Gas aus dem Vulkankessel.

Der Ausbruch fiel in eine Zeit, in dem Nachrichten noch auf Papier geschrieben und von Segelschiffen ausgeliefert wurden. Das dauerte Tage, Wochen, Monate. Entsprechend schwer tut sich die Wissenschaft. Lothar Viereck vom Institut für Geowissenschaften an der Universität Jena schätzt, dass der Tambora 30 bis 70 Millionen Kubikkilometer zu Asche zerkleinertes Magma und weitere 30 Millionen Kubikkilometer zersprengtes Gestein ausgeworfen hat.

Der Vulkan wurde geköpft wie ein Frühstücksei. Hatte er bis zum April 1815 noch 4300 Meter gemessen, reicht er seitdem 2850 Meter in die Höhe. "Einen aktiven Vulkan kann man mit einer Sektflasche vergleichen, deren Korken nicht mehr von einem Drahtgestell fixiert wird", sagt Lothar Viereck. "Niemand kann sagen, wann dieser Vulkan explodiert, aber wenn er explodiert, entwickelt er ungeheure Kraft." Wie bei einer Sektflasche ein leichter Schlag genügen mag, um den Korken wegzusprengen, kann es bei einem Vulkan ein leichtes Erdbeben sein, das mächtige Eruptionen auslöst. Clive Oppenheimer von der Universität Cambridge hat ausgerechnet, dass die Sprengkraft des Tamboras derjenigen von 170 000 Hiroshima-Bomben entsprach.

Gut ein Jahr nach dem Ausbruch des Tambora, im Juli 1816, schrieb der britische Lyriker Lord Byron in Genf ein Gedicht, das er "Finsternis" nannte. Wie viele Menschen wunderte er sich über den fahlen, kühlen Sommer. "An einem besonders dunklen Tag begannen die Hühner schon mittags, sich zur Nacht auf die Stangen zu setzen, und man zündete Kerzen an, als sei es Mitternacht", notierte Lord Byron. In seinem Gedicht heißt es: "Mir kam ein Traum - es war nicht ganz ein Traum./ Die schöne Sonne war verglüht, die Sterne verdunkelt kreisten in dem ew'gen Raum,/ weglos und ohne Strahl; blind zog die Erde in mondesleerer Luft.

Im Mai 1816 zogen Hungernde mit Mistgabeln durch England und riefen: "Brot oder Blut"

Die Narreteien der Natur fielen in eine Zeit, die ohnehin von Unsicherheit und Angst geprägt war. Die Erinnerung an die Napoleonischen Kriege waren noch frisch. Der Wiener Kongress, der am 9. Juni 1815 zu Ende gegangen war, ordnete den europäischen Kontinent neu. Propheten des Weltuntergangs fanden viel Zulauf.

Und war es denn nicht auch beängstigend, dass der europäische Sommer 1816 im Schnitt 0,7 Grad kälter war als der Durchschnitt der Jahre 1810 bis 1819, wie Richard Stothers 1984 im Wissenschaftsmagazin Science schrieb? (Andere Quellen sprechen sogar von zwei Grad.) Dass es der kälteste Sommer seit 1750 war, als man begonnen hatte, systematisch das Wetter aufzuzeichnen? Auch bei totalen Mondfinsternissen schimmert der Mond immer noch leicht rötlich. Warum verdunkelte er sich am 9. und 10. Juni 1816 derart, dass Beobachter in Dresden und London befürchteten, er könnte vom Himmel gefallen sein?

Der Temperatursturz ließ das Korn auf dem Halm erfrieren. Die Folge war "die letzte Versorgungskrise, die es in der westlichen Welt gab", schreibt J. D. Post von der Johns Hopkins University in Baltimore. Der preußische General Carl von Clausewitz reiste im Frühjahr 1817 durch die Eifel. Er sah "armselige Gestalten, die kaum noch wie Männer aussahen, über Felder ziehen, um unreife oder halb verrottete Kartoffeln aufzuklauben". Die Not löste Aufstände aus. Im Mai 1816 zogen Hungernde mit Mistgabeln durch Englands Osten und riefen: "Brot oder Blut!" Der Typhus tötete zwischen 1816 und 1819 Millionen Menschen.

Auch Nordamerika litt unter dem Tambora-Ausbruch. Im Frühjahr 1816 zog trockener Nebel durch den Nordosten, den Wind nicht wegpusten und Regen nicht wegwaschen konnte. Anfang Juni 1816 fiel in New York und Maine Schnee , strenger Frost hielt New England und Connecticut im Griff. Chauncey Jerome aus Plymouth/Connecticut schrieb in sein Tagebuch: "Am 10. Juni brachte meine Frau ein paar Kleidungsstücke herein, die wir über Nacht draußen liegen gelassen hatten. Sie waren steif gefroren, als wär's Winter."

All das war die Folge von 30 Millionen Tonnen Schwefel, die der Tambora ausgespuckt hatte. Der Schwefel stieg mehr als 40 Kilometer auf, lappte also in die Stratosphäre, die in etwa zwölf Kilometern Höhe beginnt. Sauerstoff verwandelte den Schwefel in 60 Millionen Tonnen Schwefeldioxid. In Höhen von bis zu zehn Kilometern hält sich Schwefeldioxid nicht allzu lang. Es wird ausgewaschen und fällt als saurer Regen zur Erde. Gelangt es jedoch in die Stratosphäre, schluckt und reflektiert es Sonnenstrahlen, die sonst Felder und Wälder, Dörfer und Städte, Frauen, Männer und Kinder gewärmt hätten.

Derartige Mengenangaben können nur Schätzungen sein. Heutige Wissenschaftler rufen allerdings unbestechliche Zeugen auf - Eisschilde in Grönland und der Antarktis. Die Sulfatlage in beiden Eisschilden, die die Wissenschaftler auf 1816 datieren können, passen zum Ausbruch des Tambora im April 1815. Aufwendige Analysen der Eis-Kerne bestätigen die Vermutung, dass der Schwefel damals rund um den Globus reiste.

Etwa halb so hohe Werte fanden die Experten auch in einer Schicht, die sie dem Jahr 1810 zuordnen. Irgendwo auf der Welt muss im Frühjahr 1809 schon einmal ein Vulkan explodiert sein. "Diesen Übeltäter", so Clive Oppenheimer von der Universität Cambridge, "müssen wir allerdings noch dingfest machen."

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SZ vom 11.04.2015
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