Süddeutsche Zeitung

Musik:A, B, D, die Katze lief im Klee

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Sind Kinderlieder wirklich letzte Bastionen der Tradition? Eine Studie zeigt: Auch vor vermeintlich uralten Melodien macht der Wandel nicht halt.

Von Katharina Osterhammer

Es gibt ihn noch, den Fels in der Brandung, der sich gegen alle Trends und jeden schnellen Wandel stemmt: Schlaflieder, die mündlich von Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden. "Schlaf, Kindlein, schlaf" zum Beispiel: ein Grundmotiv aus drei, vier Tönen in absteigender Folge, das seit Generationen Kindern süße Träume beschert. Aber ist es wirklich so, dass Lieder wie dieses noch immer so klingen, wie sie die Großeltern einst von ihren Eltern gehört haben?

Eher nicht. Denn auch vermeintlich zeitlose, mündlich überlieferte Kinderlieder dürften sich über Generationen hinweg teils deutlich verändert haben; tatsächlich sind auch von "Schlaf, Kindlein, schlaf" verschiedene Versionen aus unterschiedlichen Jahrhunderten bekannt. Wie genau so etwas passiert, haben nun Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Current Biology nachgezeichnet. Forscher vom Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main um den Musikpsychologen Manuel Anglada-Tort haben dazu fast 1800 Testpersonen online unterschiedlich komplizierte Melodien vorgespielt. Die Teilnehmer aus den USA sowie aus Indien sangen sie jeweils einzeln nach. Eine Aufnahme dieses Gesanges wurde dann an den nächsten Probanden weitergegeben, der sie wieder imitierte, und so fort - so wie "Stille Post", nur mit Melodien.

Bei der Auswertung der Aufnahmen wurde deutlich: Die Teilnehmenden hatten mit der Zeit wohl versehentlich die Tonfolgen abgewandelt. "Die Änderungen waren nicht zufällig, sondern hatten einen eindeutigen Effekt: Sie machten die Melodien leichter zu erlernen", erklärt Seniorautor Nori Jacoby, Leiter der Forschungsgruppe zu computergestützter auditiver Wahrnehmung am MPIEA. Konkret heißt das: Intervallsprünge wurden kleiner und Tonabfolgen bogenförmiger, sie neigten also dazu, mehr oder weniger kontinuierlich anzusteigen und abzufallen.

Anspruchsvolle Lieder werden zu Tonfolgen, die jeder hinbekommt

Das Team identifizierte vor allem drei Faktoren, welche die mündliche Überlieferung von Melodien beeinflussten: biologische, kognitive und kulturelle. "Die biologischen Grenzen unserer Körper beeinflussen, welche Melodien wir singen können und welche wir eher vermeiden", erklärt Jacoby. Eine Rolle spielen dabei beispielsweise das Lungenvolumen und die Artikulationsfähigkeiten. Anspruchsvolle Lieder werden deshalb zu Melodien, die auch musikalisch Unbedarftere trällern können.

Unter kognitivem Einfluss verstehen die Musikpsychologen, wie gut man sich Melodien merken kann: Tonabfolgen, die schwer im Gedächtnis bleiben, werden im Laufe der Jahre so angepasst, dass man sich leichter daran erinnern kann. Der Einfluss von Kultur auf die mündliche Überlieferung von Melodien schließlich überraschte die Forscher am meisten.

"Welchen Kulturen und welcher Art von Musik wir in unserem Leben bisher ausgesetzt waren, beeinflusst, wie wir Musik beim Vorsingen verändern", sagt Erstautor Anglada-Tort. Teilnehmer aus der indischen Gruppe passten Melodien der typisch indischen Tonalität an, während US-Teilnehmende sich eher an "westlichen" Tonabfolgen orientierten. Wie Menschen Lieder nachsingen, die von unterschiedlichen Kulturen geprägt wurden, möchten die Forscher in Folgeexperimenten untersuchen. Denkbar, dass dabei zum Beispiel ein westlich-indischer Remix von "Schlaf, Kindlein, schlaf" entsteht.

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