Süddeutsche Zeitung

Meeresbiologie:Bakterien mit Stromkabel

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Dänische Wissenschaftler haben äußerst ungewöhnliche Zellen im Boden der Ostsee entdeckt. Die Bakterien bilden lange Fäden, über die sie Elektronen leiten.

Christopher Schrader

Manchmal liegen die erstaunlichsten Dinge direkt vor den Füßen, man muss nur richtig hinschauen. So wie Nils Risgaard-Petersen und seine Kollegen von der Universität Aarhus in Dänemark.

Sie haben im Schlamm der Aarhusbucht (südwestliches Kattegat; vielmals sowohl als Arm der Ostsee als auch der Nordsee betrachtet; Anm. d. Red.) einzigartige Bakterien entdeckt, die sich offenbar zentimeterlang ausstrecken und Strom leiten. Die Organismen besitzen isolierte Kabelkanäle auf ihrer Außenhaut und genormte Steckverbindungen; mindestens 5000 individuelle Zellen sind in dünnen Fäden mit gemeinsamer Hülle zusammengestöpselt ( Nature, online).

Die Mikroorganismen aus der Familie Desulfobulbaceae verbinden zwei sehr unterschiedliche Milieus im Sediment des Meeresbodens. In der obersten Schicht, nur Millimeter dick, haben Bakterien noch Zugang zu Sauerstoff und betreiben darum aeroben Stoffwechsel, fressen also organische Kohlenstoffmoleküle, ähnlich wie Menschen.

Darunter liegen Regionen, deren Bewohner Schwefelverbindungen verdauen. Dabei werden einzelne Elektronen frei, die die Organismen loswerden müssen, aber nicht so leicht loswerden können.

Hier zeigt sich der Vorteil der Bakterienfäden: "Die Zellen unten entsorgen die Elektronen einfach in die Kabelkanäle", sagt Risgaard-Petersen. "So sind sie die Ladung los, und die Bakterien oben können sie sogar noch gut gebrauchen, um Sauerstoff zu verarbeiten." Die Kabel sind also so etwas wie Müllschlucker in einem Hochhaus, in dessen Keller auch noch eine Recyclingwerkstatt arbeitet. Nur eben auf den Kopf gestellt.

Im Querschnitt ähneln die Bakterien Zahnrädern, wie das Elektronenmikroskop zeigt. In den "Zähnen" liegen die Kabel isoliert zwischen der inneren Wand jeder einzelnen Zelle und der gemeinsamen äußeren Membran. Die Forscher haben verschieden dicke Fäden gefunden, die 15 oder 17 Kabelkanäle besitzen. Sie haben sich vermutlich aus jeweils einem Bakterium entwickelt, das sich wieder und wieder geteilt und mit seinen Töchtern zusammengekoppelt hat, sagt Risgaard-Petersen. Jeder einzelne Faden leitet ungefähr ein Nanoampere (ein Milliardstel Ampere) Strom. Weil es viele davon gibt, steckt in jedem Teelöffel Schlamm ein Kilometer biologisches Kabel.

Die Biologen aus Aarhus haben zusammen mit Kollegen aus Los Angeles bereits viele Messungen und Experimente mit den Bakterien gemacht. Als sie zum Beispiel einen dünnen Metallfaden horizontal durch eine Sedimentprobe zogen und so die Fäden zerschnitten, riss der Stromfluss ab, und der Sauerstoffverbrauch oben ging zurück. Auch Filter mit dünnen Poren unterbrachen den elektrischen Kontakt, weil die Bakterien sie nicht durchdringen konnten. "Unsere Daten und Experimente schließen eigentlich jede andere Erklärung aus", sagt Risgaard-Petersen.

In einem Kommentar in Nature bestätigt die Mikrobiologin Gemma Reguera von der Michigan State University, das dänisch-kalifornische Team habe "zwingende Beweise" der ungewöhnlichen Behauptung vorgelegt.

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