Süddeutsche Zeitung

Grube Messel:Viel Rummel um ein Urzeit-Äffchen

Lesezeit: 3 min

Das Fossil aus Deutschland gilt als wissenschaftliche Sensation - ist aber nicht der "missing link" zwischen Affe und Mensch.

Patrick Illinger

Vor 47 Millionen Jahren war Hessen von Regenwald bedeckt. Europa begann sich soeben vom nordamerikanischen Kontinent abzuspalten. Auch nach Afrika bestand noch eine Landbrücke. Es war die Ära nach dem Aussterben der Dinosaurier. Körpermasse und riesige Panzer waren unter den Tieren nicht mehr die wichtigsten Waffen im Wettkampf der Evolution. Im dichten Geäst der Wälder waren Beweglichkeit und Geschick gefragt. Neue Spezies breiteten sich rasant aus, unter ihnen Nagetiere, aber auch ganz neue Wesen, deren Fähigkeit zu klettern, sich von Baum zu Baum zu hangeln, um nahrhafte Früchte und Blätter zu erreichen, alle anderen Tiere übertraf.

Es waren die ersten Primaten, aus denen sich später die heutigen Affen und letztlich auch der moderne Mensch entwickelten. Die neuen Wesen besaßen zudem eine Fähigkeit, mit der sie viele der zu jener Zeit lebende Reptilien und Amphibien übertrumpften: Sie waren intelligenter.

Eine junge Vertreterin dieser neuen Ordnung der Primaten hatte jedoch wenig Glück. Nur wenige Monate alt, brach sie sich die Hand. Sie konnte nicht mehr gut klettern, musste am Boden umherlaufen. Womöglich beim Trinken an einem Vulkansee im heutigen Südhessen atmete sie giftige Gase ein, wurde ohnmächtig und stürzte in den Schlick, wo sie zu einem Fossil versteinerte. 47 Millionen Jahre lang steckte ihr Körper im Gestein der heutigen Grube Messel bei Darmstadt, wo ein privater Fossiliensammler ihre Überreste in den 1980er Jahren fand.

47 Millionen Jahre versteinert

In zwei Stücke zerbrochen ging die Versteinerung zunächst obskure Wege. Vor zwei Jahren jedoch bekam der norwegische Paläontologe Jørn Hurum, nach einigen Gläsern Wodka, wie er selbst andeutet, ein Foto der Versteinerung zu sehen. Sofort von deren Bedeutung überzeugt, gelang es ihm über einen Mittelsmann, das Fossil für das Naturkundemuseum in Oslo zu kaufen. In Fachkreisen bekam das Urzeit-Äffchen die Bezeichnung Darwinius masillae. Hurum selbst taufte es Ida, so wie seine Tochter.

Es folgten zwei Jahre intensiver Untersuchungen, an denen weltweit sechs Forschungsgruppen beteiligt waren, unter ihnen das Frankfurter Senckenberg-Institut. Idas Überreste wurden mit modernsten Methoden durchleuchtet, so auch im Computertomographen. Das Ergebnis sind erstaunliche Bilder eines nahezu vollständig erhaltenen Wesens, das wohl ein indirekter Vorfahr aller heutigen Affen und Menschen war. Dafür sprechen mehrere anatomische Eigenschaften, vor allem Zehen und Finger, von denen einer so wie der menschliche Daumen den anderen gegenüber liegt.

Große Begeisterung

Die Euphorie der beteiligten Forscher kennt kaum Grenzen. Vom "achten Weltwunder" spricht der Frankfurter Paläontologe Jens Franzen. Die öffentliche Vorstellung des vollständigen Fossils am Dienstag in New York gestalteten die Wissenschaftler so glamourös, wie es sonst in der Kunst- oder Modewelt üblich sind. Unter Anwesenheit des New Yorker Bürgermeisters Michael Bloomberg enthüllten die Forscher das Fossil, warfen überdimensionale Bilder zu stimmungsvoller Musik an die Wand und sparten nicht mit Superlativen.

Dabei umgingen die Forscher nicht die in den Naturwissenschaften übliche Praxis, Ergebnisse in einem von Gutachtern überwachten Fachmagazin zu veröffentlichen. In diesem Fall geschah das jedoch nicht in den alterwürdigen Titeln Nature oder Science, sondern in dem modernen, nur im Internet erscheinenden Journal Plos one.

Unabhängig von den nun zu erwartenden, unter Paläontologen üblicherweise heftig ausgetragenen Streitereien um die korrekte Einordnung des Fossils, haben Jørn Hurum und seine Kollegen mit der aufsehenerregenden Präsentation ihres Fundes eine neue Ära der Wissenschaftskommunikation begonnen. "Welcher Fehler sollte darin bestehen, wenn wir die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, was die Wissenschaft zu bieten hat - dass es noch etwas mehr gibt als erfolgreiche Sportler und gute Musik?", rechtfertigt der Frankfurter Jens Franzen die schillernde Präsentation.

Dass das Ereignis mit "The Link" überschrieben wurde, kritisieren Fachkollegen jedoch mit Recht. Der Begriff missing link beschreibt üblicherweise ein anderes von Paläontologen gesuchtes Wesen, nämlich den letzten gemeinsamen Vorfahr von Mensch und heutigen Menschenaffen, der vor gut 10 Millionen Jahren gelebt haben müsste. Darwinius masillae ist jedoch das Verbindungsglied einer viel früheren Aufspaltung im menschlichen Stammbaum: Es bezeugt die Trennung zwischen den Feuchtnasenaffen, zu denen die heute auf Madagaskar lebenden Lemuren gehören, und den Trockennasenaffen, zu denen - technisch gesprochen - auch der Mensch gehört. Doch diese wissenschaftlich korrekte Einordnung von Ida hätte nicht so gut geklungen wie "The Link".

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SZ vom 22.5.2009/vw
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