Süddeutsche Zeitung

Frage der Woche:Darben ohne Narben?

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Sie sind in der Fastenzeit wohl gelitten: Legenden von Asketen, die nur von Luft und Glauben leben. Doch wie lange kann der Mensch tatsächlich hungern?

Berit Uhlmann

Zuletzt war es Prahlad Jani. Der 76-jährige Inder tauchte 2003 auf und erklärte der Welt, er habe seit 65 weder gegessen noch getrunken. Untersuchungen in einem indischen Krankenhaus förderten keinerlei Aufschluss zu seiner Behauptung zu Tage, wohl aber die Erkenntnis, dass der Fakir kerngesund war.

Jani reiht sich ein in eine jahrhundertealte Liste angeblicher Asketen. Katholische Heilige gehören dazu, buddhistische Mönche, Hindus und esoterische "Lichtfaster". Sie alle reklamierten für sich, allein von spiritueller Nahrung verschiedener Art und Provenienz zu leben.

Die Wissenschaft hält solche Behauptungen für unglaubwürdig. Allerdings zeigen die wenigen dokumentierten Fälle von Nahrungsverweigerung, dass der Mensch länger darben kann, als landläufig angenommen.

Einer dieser Fälle ist das Schicksal der US-amerikanischen Wachkoma-Patientin Nancy Cruzan. 1990 wurde ihrer Familie nach langen Rechtsstreitigkeiten erlaubt, die künstliche Ernährung der unheilbar Kranken einzustellen. Elf Tage, nachdem man Cruzan jegliches Essen und Trinken nahm, starb sie. Seither hat es in den USA etliche weitere solcher Fälle gegeben. Im Schnitt überlebten die Patienten die komplette Nahrungslosigkeit zehn bis 14 Tage, in Einzelfällen sogar drei Wochen.

Abhängig von Faktoren wie dem Allgemeinzustand, dem Energieverbrauch und der Umgebungstemperatur des Menschen kann seine Überlebenszeit jedoch wesentlich kürzer sein. Bereits bei einem Flüssigkeitsmangel, der länger als 48 Stunden währt, können ernste Komplikationen wie Nierenschäden oder Herz-Kreislauf-Probleme auftreten.

Nimmt ein Fastender dagegen ausreichend Wasser zu sich, kann er mehrere Wochen überleben. Zu den am besten dokumentierten Fällen gehört der Hungerstreik von vier französischen Atomgegnern, der von Ärzten überwacht und im Fachblatt Lancet beschrieben wurde. Demnach wurde der Zustand der vier Hungernden kritisch, nachdem sie 18 Prozent ihres Gewichtes verloren hatten - ein Wert, den sie zwischen dem 28. und 35. Fastentag erreichten. Bei einem Aktivisten brachen die Ärzte den Streik am 38. Tag ab. Der Patient litt an akuter Wernicke-Enzephalopathie, einer durch Vitaminmangel hervorgerufenen Krankheit, die mit Verwirrtheit und psychotischen Zuständen einhergeht. Die drei anderen Atomkraftgegner gaben ihren Streik entkräftet nach 40 Tagen auf.

In einem anderen Fall überwachten Mediziner aus Iowa das rituelle Fasten eines 41-Jährigen Mönchs. Nach 33 Tagen des Hungerns war der Mann so geschwächt, dass er bis zu einer halben Stunde brauchte, um sich morgens im Bett aufzurichten. Nach 36 Tagen beendete er das Fasten, da er seinen religiösen Pflichten nicht mehr nachkommen konnte. Ernsthafte Schäden trug der Mann, der anonym bleiben wollte, nicht davon.

Dies ist allerdings nicht garantiert. Bei einer Fastenkur, die länger als zehn bis 14 Tage dauert, drohen unter anderem ernste Herz-Kreislauf-Probleme, Verwirrtheitszustände und Depressionen. Bei Menschen, die länger als drei Wochen nichts gegesssen haben, kann die Rückkehr zur normalen Ernährung den Körper überfordern und sollte medizinisch überwacht werden.

Fastende, die dagegen mit der Flüssigkeit auch Kalorien und Nährstoffe aufnehmen, also Fruchtsäfte, Brühen, Buttermilch oder gar speziell entwickelte Flüssignahrung, können Monate im Idealfall sogar Jahre durchhalten.

Womöglich liegt darin eine Erklärung für so manchen Hungerkünstler: Ohne sich dessen bewusst zu sein, nehmen die vermeintlichen Asketen über die Getränke ausreichend Nährstoffe auf. Als weitere Möglichkeit hat man das Schlafwandeln herangezogen. Fastende könnten sich während ihrer nächtlichen Touren den Bauch füllen, ohne es selbst zu merken.

Letztlich ist auch bewusster Betrug eine mögliche Erklärung für die Askese. Denn so alt wie die Legenden von den Hungerkünstlern sind auch die Erzählungen von Tricksereien während der Fastenzeit. Im Mittelalter sollen Mönche Gänse als "Wassertiere" deklariert haben, um sie vom Fleischverbot der Fastenzeit auszunehmen. Die Schwäbische Maultasche soll erfunden worden sein, weil einigen Mönchen im Allgäu just zur Fastenzeit ein wunderbar kräftiges Stück Fleisch zufiel, das zu vergeuden sie nicht übers Herz brachten und es daher zwischen den Teigblättern versteckten. Noch heute werden die Teigtaschen daher "Herrgottsbscheißerle" agenannt.

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