Süddeutsche Zeitung

Biologie:Über kurz oder lang

Lesezeit: 5 min

Manche Tiere leben nur Minuten, andere Tausende Jahre. Wissenschaftler tun sich immer noch schwer, das Mysterium des Alterns zu entschlüsseln.

Von Kathrin Zinkant

Manchmal offenbart das Leben seine Flüchtigkeit in einem Wasserloch in Afrika. Der Gonarezhou-Nationalpark liegt in Simbabwes Grenzgebiet zu Mosambik, er gilt als besonders artenreich und er hat ziemlich viele Wasserlöcher. Im Sommer sind sie meist ausgetrocknet, doch im Winter, wenn der Regen kommt, beginnt ein bemerkenswertes Schauspiel. Wie aus dem Nichts tauchen Fischlarven in den soeben gefüllten Tümpeln auf, und kaum dass man die Tierchen entdeckt hat, sind sie zu schon fingerlangen bunten Fischen herangewachsen, die sich eilig paaren.

Nach drei Wochen ist die Familiengründung abgeschlossen, die dürrefesten Eier werden im Schlamm deponiert und dann geht es auch schon bergab mit den Eltern. Der türkise Prachtgrundkärpfling, auch türkiser Killifisch genannt, rast vergreisend durch den Rest seiner Existenz. Selten wird er älter als drei Monate, kein Süßwasserfisch lebt kürzer. Von allen Fischen dieser Erde schafft es lediglich eine Grundel aus dem Indopazifik, noch ein paar Tage schneller zu sterben.

Es gibt zahlreiche Tiere, die keine Fische sind und solche Rekorde noch locker unterbieten. Zugleich haben die vergangenen Jahrzehnte ziemlich erstaunliche Erkenntnisse über die biologischen Möglichkeiten am anderen Ende der Zeitskala erbracht. Tausende Jahre alte Schwämme, uralte Muscheln, sogar potenziell unsterbliche Lebewesen wie manche Quallen oder der Süßwasserpolyp Hydra wurden entdeckt. Und die Frage, warum es zwischen den Kreaturen auf der Erde eine derart frappierende Diskrepanz in der Lebensspanne gibt, hält inzwischen einen gewaltigen Forschungsapparat auf Trab. Schließlich könnte, wer das Altersrätsel der anderen tierischen Lebewesen löst, womöglich auch dem Menschen helfen, seine Existenz über die bislang erst einmal erreichten 122 Jahre hinaus in die Länge zu ziehen.

Im Körper des Grönlandwals fanden sich altertümliche Pfeilspitzen aus Elfenbein

Es mangelt entsprechend nicht an Theorien und Erkenntnissen, welche die Wissenschaft scheinbar stetig näher an des Rätsels Lösung heranführen. So hat man in Würmern, Säugern und anderen Lebewesen veränderte Gene gefunden, die beispielsweise zu einem nachhaltigen Stoffwechsel führen oder die Anhäufung von Zellgiften verhindern. Man hat beobachtet, dass große Tiere in der Regel älter werden als kleine und viele Lebewesen mit großer Lebensspanne in recht unwirtlichen, weil kalten Umgebungen zu Hause sind, was ihren Stoffwechsel verlangsamt. Und schließlich entdeckten Wissenschaftler Spezies, die ihr Erbgut von den vielen einwirkenden Mutationen schützen und die Zahl der Zellteilungen von ihrer natürlichen Beschränkung befreien konnten. Beim Killifisch ist übrigens das Gegenteil der Fall, sein Erbgut ist auffallend vermüllt und weitgehend ungeschützt gegen schädliche Mutationen.

Entscheidend bleibt trotz allem die Frage, welchen evolutionären Vorteil ein langes oder kurzes Leben denn mit sich bringt, und die bleibt gerade bei den langlebigsten Arten meist unbeantwortet - denn alles, was in der Evolution zählt, ist Vermehrung. Ist das reproduktive Alter erreicht und der Nachwuchs gezeugt, lohnt die Investition in den Erhalt eines Körpers eigentlich nicht mehr. In einigen Fällen könnten ältere Tiere allerdings die Pflege der Nachkommen anderer Individuen übernehmen - in etwa so, wie es die Großeltern beim Menschen tun.

Inwieweit dieser Aspekt für die ältesten Säugetiere zutrifft, ist unklar. Der bis zu 100 Tonnen schwere und 20 Meter lange Grönlandwal etwa kann als Rekordhalter ein Alter von 200 Jahren erreichen, vielleicht sogar mehr. Das hatte ein Team um den Biologen Craig George im North Slope Borough, Alaska, 1999 durch Analysen der Augenlinsen von 42 Tieren herausgefunden. Die Linsen erneuern sich nach der Geburt nicht mehr und erlauben deshalb Rückschlüsse auf die verstrichene Lebenszeit eines Tieres. Zugleich schälte George aus den Körpern der Meeressäuger altertümliche Harpunenspitzen aus Stein und Elfenbein. Warum der Wal so alt wird, ist dennoch rätselhaft, immerhin wird er schon mit zehn Jahren geschlechtsreif, auch seine Trächtigkeit dauert mit 13 Monaten nicht ungewöhnlich lange.

Dennoch galt der Grönlandwal über 16 Jahre hinweg als das langlebigste Wirbeltier der Welt. Den Titel hat er inzwischen allerdings an einen anderen Bewohner arktischer Meere abgetreten. Der Grönlandhai wiegt rund eine Tonne, misst wenige Meter und kann mindestens doppelt so alt werden wie der Wal. Das haben dänische Wissenschaftler 2016 an 28 Weibchen festgestellt. Auch hier untersuchten die Biologen die Augenlinsen der Tiere.

Wie sich zeigte, hatten acht der Haie ein Alter von teils deutlich mehr als 200 Jahren erreicht. Das größte Exemplar erwies sich dabei als das älteste: Der Hai maß fünf Meter und war knapp 400 Jahre alt, vielleicht sogar 500. Das Tier hat demnach zu Lebzeiten von Elisabeth I. von England und vor dem Höhepunkt der europäischen Hexenverbrennungen das Licht der Unterwasserwelt erblickt - als 50 Zentimeter kurzes Haibaby, das mindestens acht Jahre ausgetragen worden war und fortan nur einen Zentimeter pro Jahr wachsen würde. Tatsächlich werden Grönlandhaie erst ab einer Körperlänge von vier Metern geschlechtsreif. In diesem Fall ist das hohe Alter also tatsächlich ein Vorteil im Sinne der Evolution.

Man könnte zudem meinen, dass bei diesen Walen und Haien sich der lange vermutete Zusammenhang zwischen Körpergewicht und Lebensspanne bestätigt. Zu ihnen passen auch die Ideen, dass das Fehlen von Fressfeinden und ein langsamer Stoffwechsel in kalten Gefilden das Leben verlängern. Doch nicht nur die großen, starken Arten überraschen mit Langlebigkeit, auch sehr kleine Kreaturen können viele Jahre überdauern. Zum Beispiel die große Bartfledermaus.

Der Name ist etwas irreführend, das fliegende Säugetier wird nur wenige Zentimeter lang und wiegt auch bloß um die sieben Gramm. In erster Linie besteht es aus Haut, flauschigem Fell und erscheint nicht gerade robust. Nachdem Forscher in Sibirien jedoch zu Beginn der 1960er-Jahre rund 1500 Exemplare von Myotis brandtii beringt hatten, stellte man bei Fangstudien 2001 und schließlich 2004 fest, dass ein paar der Fledermäuse noch immer lebten. Das älteste Exemplar war mindestens 41 Jahre alt, als man es zuletzt sah - und damit zehn Mal so alt, wie Forscher es auf Basis des geringen Körpergewichts erwartet hätten. Als mögliche Ursache haben Molekularbiologen herausgefunden, dass einige Fledermäuse die Schutzkappen ihrer Chromosomen im Erbgut erneuern. Normalerweise werden sie mit jeder Zellteilung kürzer.

Noch keiner der Mechanismen hat bei höheren Lebewesen zu Unsterblichkeit geführt

Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Forscher im Einzelfall zwar oft einleuchtende Erklärungen für die besonders kurze oder lange Lebensspanne einer Spezies finden. Doch können sie diese Erkenntnisse bislang nicht zu einem schlüssigen Gesamtkonzept bündeln. Denkbar ist, dass die Evolution sehr verschiedene Mechanismen hervorgebracht hat, um die Lebensspanne eines Tieres zu begrenzen oder zu erweitern. Wobei keiner dieser Mechanismen bei höheren Lebewesen zur Unsterblichkeit geführt hat. Und was beim Tiere funktioniert, muss beim Menschen noch lange nichts bewirken. Der türkise Prachtgrundkärpfling etwa soll länger leben, wenn man ihm den aus Rotwein stammenden Pflanzenstoff Resveratrol ins Futter mischt. Unter Menschen ist der Stoff nun schon seit Jahren beliebt und wird als Nahrungsergänzung und Wirkstoff in Kosmetika angeboten. Belege für eine verjüngende oder gar lebensverlängernde Wirkung sucht man hier allerdings vergeblich.

Ob das zu bedauern ist, bleibt Ansichtssache. Denn so flüchtig sein Leben dem Menschen erscheinen mag: In den 122 möglichen Jahren kann man eine ganze Menge erleben. Vor allem, wenn man sie weder in 900 Meter Meerestiefe, noch in einem austrocknenden Wasserloch verbringen muss.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4769977
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.01.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.