Süddeutsche Zeitung

Bewusstsein:Du siehst mich, deshalb will ich

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Der Mensch schafft sich als geistiges Wesen erst in der Interaktion mit anderen selbst, sagt der Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz. In seinem neuen Buch stellt er fest, dass Subjektivität keine biologische Tatsache ist, sondern das Ergebnis sozialen Lernens.

Von Eva Weber-Guskar

Wolfgang Prinz beginnt sein neues Buch überraschenderweise mit einem Zitat aus einem klassischen Text zur Freiheit des Menschen: Es stammt aus der Rede "Über die Würde des Menschen" des Renaissance-Denkers Pico della Mirandola.

Überraschend ist das deshalb, weil Prinz, Psychologe und Kognitionswissenschaftler, bisher als Leugner des klassischen Konzepts der Willensfreiheit bekannt ist. Ein solcher ist der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig auch jetzt noch. Er vertritt weiterhin die Ansicht, dass es nicht als Naturtatsache, sondern nur als soziales Artefakt gäbe. Das Gehirn unterliege dem kausalen Determinismus. Moralische Freiheit, so Prinz, schreiben wir uns nur gegenseitig zu.

An dem berühmten Text interessiert Prinz für sein Buch "Selbst im Spiegel", das zuerst auf Englisch erschienen ist, deshalb gar nicht die Idee der Freiheit selbst, sondern etwas anderes, nämlich das "konstruktivistische Timbre", das in Picos Menschenbild mitschwinge.

"Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen (. . . ) selbst bestimmen", lässt Pico Gott zum Menschen sagen. Und Prinz meint, dass da durchaus etwas dran sei: Der Mensch schaffe sich als geistiges Wesen selbst.

Genauer: Subjektivität, das heißt die Fähigkeit, sich seiner selbst als Denkender, Handelnder, Fühlender bewusst zu sein, sei nicht einfach mit den biologischen Gegebenheiten des Gehirns vorhanden. Vielmehr entwickle sie sich nur, indem sich ein Mensch auf andere beziehe.

Mit dieser These setzt Prinz sich vom Mainstream der kognitionswissenschaftlichen Forschung ab. Dem klassischen Paradigma von Naturalismus und Individualismus setzt er Kollektivismus und Konstruktivismus entgegen. Der Mensch schaffe sich als geistiges Wesen in der Interaktion mit anderen selbst.

Das ist der Kern der Ergebnisse von 20 Jahren Forschung. Ausgehend von Versuchen in der klassischen Verhaltensforschung, von elektrophysiologischen Untersuchungen der Gehirnströme sowie von Hirnscans. Und auch in Auseinandersetzung mit philosophischen Theorien des Geistes.

Grundlegend war dabei die Einsicht, dass Denken, Wille und Handlung ganz eng miteinander verwoben seien. Um sich in der Welt zu orientieren oder sie zu "steuern", wie Prinz es nennt, sei es notwendig, Handlungen anderer antizipieren zu können. Und dazu eigne sich nichts besser, als dem Gegenüber Gedanken und Absichten zu unterstellen. Das Gegenüber tue das Gleiche.Diese Fremdzuschreibung übernehme man.

Zugespitzt heißt das: Ich weiß, dass ich etwas denke oder will, nicht, weil ich das bei mir so erlebt habe - sondern weil ich sehe, dass jemand anderes davon ausgeht, dass ich es denke oder will. So entstehe Subjektivität. Die subpersonale Ebene werde durch eine personale ergänzt, weil es sich damit besser leben lasse.

Die wichtigsten Prozesse dieser Art fänden freilich sehr früh statt, in den ersten Lebensmonaten und -jahren. Babys seien für ihre Entwicklung darauf angewiesen, dass die Bezugspersonen einen Spiegel spielten, einen lebendigen, einen, der mal vor- und mal nachmacht. Der lächelt oder die Zunge rausstreckt.

Vor der Sprache wirken die Spiegelneuronen

Nach Prinz perpetuieren sich solche Prozesse auch in gesellschaftlichen Diskursen. Der Spracherwerb sei ein wichtiger großer Schritt. Doch zuerst und immer auch fänden solche Prozesse ohne Sprache statt: auf der Ebene von Spiegelneuronen und Körperschemata.

Prinz schreibt wunderbar klar und der Reihe nach, so dass jeder konzentrierte Leser eingeladen ist, nachzuvollziehen, wie sich aufgrund von empirischen Experimenten und ihrer Deutung ein neues Paradigma entwickeln kann und verteidigen lässt. Nur manchmal irritieren ungenaue Formulierungen wie etwa: "Das Gehirn weiß" etwas. In einem Gehirn kann etwas vor sich gehen. Aber wissen kann nur eine Person etwas. Gerade um diesen Ebenenunterschied geht es ja in dem Buch.

Die Idee, dass wir Menschen uns gegenseitig und gemeinsam zu dem machen, was wir sind, ist freilich nicht neu. In anderen Disziplinen wie der Kulturpsychologie, Sozialanthropologie und der Sozialphilosophie ist sie, wie auch Prinz erwähnt, schon lange bekannt und anerkannt.

Nicht jedoch in der Kognitionswissenschaft, die sich stärker den Naturwissenschaften verpflichtet sieht. Und in unserer Zeit, in der die Deutungsmacht eindeutig bei den Naturwissenschaften liegt, schafft es keine These bis zum Allgemeinwissen, wenn sie nicht auch von dieser Seite her Fürsprecher hat.

Prinz ist ein solcher Fürsprecher, der zwischen den Disziplinen vermitteln will. In seinem sorgfältig komponierten Buch führt er auch vor, was man sich nicht oft genug in Erinnerung rufen kann: wie viel Kombination und Interpretation nötig ist, um von Experimentergebnissen zu Aussagen über unser Menschenbild zu gelangen. Zahlen und Bilder sagen nichts an sich. Es braucht jemanden, der sie liest und verständlich macht. Auch alles Verstehen ist zum Teil Konstruieren.

Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel. Die soziale Konstruktion von Subjektivität. Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 502 Seiten, 39,95 Euro.

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SZ vom 02.07.2013
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