Süddeutsche Zeitung

"Bartbewegung" im 19. Jahrhundert:Vollbart gegen Luftverschmutzung

Lesezeit: 3 min

Bärte erlebten im 19. Jahrhundert einen rasanten Aufstieg. Mit abstrusen Argumenten befeuerten Mediziner den Trend: In der Gesichtsbehaarung sahen sie Filter und Heilkräfte wirken. Auch am Absturz der Bartmode wirkten sie mit.

Von Christoph Behrens

Die australische Band "The Beards" hat eine simple Botschaft: "Ohne Vollbart bist du ein Nichtsnutz." Auf ihrem aktuellen Album ("The Beard Album") bringen die Musiker es fertig, in jeden Songtitel das Wort Bart zu packen - eine einstündige Ode an die Gesichtsbehaarung. Man darf der Gruppe eine große Zukunft in den Metropolen der Welt voraussagen.

Vor 250 Jahren hätten The Beards aber singen müssen: Mit Vollbart bist du ein Nichtsnutz. Kein Gentleman, der im Europa des 18. Jahrhunderts etwas auf sich hielt, wäre unrasiert aus dem Haus getreten. Ein glattes, jugendliches Gesicht passte zu einem aufgeklärten, offenen Geist. Nur Radikale trugen Bart, um ihre Ablehnung gegen die Gesellschaftsordnung nach außen zu tragen.

Doch schlagartig änderte sich die Mode. Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte der Bart einen rasanten Aufschwung. Ein Epizentrum der Bewegung: das viktorianische England. Abenteurer und Entdecker zogen in dieser Zeit in die Welt; zurück brachten sie neu entdeckte Arten, Reichtümer, Ländereien. Und immer öfter einen Vollbart, der von Entbehrungen zeugte und die Massen faszinierte. Eine halbe Million Menschen strömten in den 1850ern zu den Vorträgen des Bergsteigers Albert Smith, der ihnen vollbärtig die Besteigung des Mont Blanc ausmalte. Die Elite war tief beeindruckt. Die Redakteure des Tait's Edinburgh Magazine erklärten sich sogleich zu "Vorkämpfern der langen Bärte"; "Warum rasieren?" fragte Charles Dickens' Wochenzeitschrift Household Words ihre Leser und beantwortete die Frage gleich selbst - mit einem Manifest für den Bart. Das wirkte. Bald darauf zeigten die Karikaturen in der Satirezeitschrift Punch schaurig unrasierte Polizisten und bärtige Schaffner. Der Bart war überall in der Gesellschaft auf dem Vormarsch.

Nutzen für Stimme und Gesundheit?

Doch dieses Ideal von Wildnis und Männlichkeit war wohl nicht der einzige Grund für den Trend. Auch Ärzte flankierten die "Bartbewegung" mit kuriosen Argumenten, glaubt der Historiker Christopher Oldstone-Moore von der Wright State University. Die Mediziner hätten in den Bärten "einen Filter gegen schlechte Luft und Krankheiten" gesehen, schreibt Oldstone-Moore in einer Studie. So schwärmte der Arzt Mercer Adam 1861 vom Nutzen des soldatischen Schnurrbarts. Neue, frischrasierte Rekruten würden deutlich öfter an Bronchialinfekten leiden als solche, "deren Oberlippen zur Genüge mit Haar bedeckt waren", hatte Adam beobachtet. Zudem ließen sich Einwohner nördlicher Nationen dichtere Bärte wachsen, was Adam als Hinweis auf eine temperaturregulierende Funktion deutete.

In der Times hieß es, Mediziner empfählen allen öffentlichen Rednern mit Halsproblemen, einen Bart unterhalb des Kinns wachsen zu lassen, um die Stimme zu schonen. Die Edinburgh Review riet ihren Lesern aus der Arbeiterschicht zu Bärten, weil diese vor Dämpfen, Staub und schlechter Luft in den industrialisierten Städten schützen könnten. In Armeekreisen glaubte man, den Bart zu rasieren bringe Zahnschmerzen mit sich. Quacksalber sprangen auf den Zug auf und warben für obskure Bartwuchsmittel.

In Amerika mischte sich die Bartbegeisterung mit der aufkommenden Elektrizität: Im American Phrenological Journal hieß es, über die Haare nehme das Gehirn elektrische Kräfte auf. Das erkläre die "mentale Stärke und Genialität" von behaarten Menschen. Einziges Manko: Haare sind gute Isolatoren, leiten aber keinen Strom. Ein anderer Autor wusste diese Tatsache gekonnt umzudeuten. Die isolierende Wirkung verhindere, dass Elektrizität aus dem Gehirn entkommen könne. Männer, die sich rasierten, verlören daher Lebenskraft.

Dennoch: "Die Wissenschaft hat die Menschen nicht dazu gebracht, Bärte zu tragen", sagt Oldstone-Moore, der aktuell ein Buch zur Medizingeschichte des Barts schreibt. Es sei eher umgekehrt gewesen: Die Menschen wollten Bärte tragen. "Die wissenschaftlichen und medizinischen Argumente entstanden dann, um sie darin zu unterstützen."

Erst im 20. Jahrhundert wendete sich das Blatt zu Ungunsten der Bärte. Louis Pasteur hatte einen Zusammenhang zwischen Mikroorganismen und Krankheiten nachgewiesen. Als man Bakterien auch in Bärten fand, galten diese bald als Hort der Keime und Krankheiten - ebenfalls eine stark übertriebene Vorstellung. Im medizinischen Fachblatt The Lancet schrieben Mediziner 1909, glattrasierte Männer litten seltener an Erkältungen - das genaue Gegenteil der früheren Annahmen.

Zudem war in den Büros ein neuer Typus Mann gefragt. Jung, dynamisch und vor allem konform sollte er sein. Individuelle Bärte waren da eher hinderlich. "Die Idee, dass Bärte dreckig sind und Krankheiten tragen, wurde einflussreich", sagt Oldstone-Moore. "Zusammen mit dem Trend zur Konformität und Jugendlichkeit wurde der Bart unbeliebt, Rasieren war wieder angesagt."

Wieder dienten die wissenschaftlichen Argumente dazu, den Trend zu untermauern. Die Wissenschaftler sahen im Bart stets das, was sie sehen wollten, glaubt Oldstone-Moore, der die Bartforschung bis in die Antike zurückverfolgt hat. Er spricht von einer "Achterbahnfahrt der inkonsistenten Ergebnisse". Und auch heute sind Fachleute nicht sicher, was die Gesichtsbehaarung, evolutionär gesehen, eigentlich soll. Viele Forscher vermuten, sie habe keinen direkten gesundheitlichen Nutzen. Bartwuchs sei eher ein äußeres Zeichen für eine hohe Immunkompetenz und wirke deshalb attraktiv. Potenzielle Partner könnten also am Bartwuchs wie an einem Aushängeschild die Gesundheit eines Mannes ablesen. Wie stark das zutrifft, ist noch umstritten.

Auch heute gibt es wieder Anfänge einer neuen Bartbewegung, besonders unter jungen Großstädtern. Könnte dem Bart also auch in der Mitte der Gesellschaft ein Comeback gelingen? Der Historiker Oldstone-Moore ist unschlüssig. Noch gebe es zu wenig Unterstützung von der Elite. "Erst wenn Politiker, Generäle, Führungskräfte wieder Bart tragen, könnte eine neue Bartbewegung entstehen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1972920
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.